Jochen Stüsser-Simpson für #kkl5 „Endlich unendlich, unendlich endlich.“
Abends am Fenster
Es ist ein Wehen in der Welt
im dunklen Raum das Fenster
steht auf Kipp, der Mond hebt
rauschend den Vorhang, schaltet
das Licht ein, malt fliegende Wolken
zerfetzt sie, die Bewegung im Fenster
das Spiegelbild bin ich, verzerrt
während mit dünnem Nebel der Mond
hinter kahlen Bäumen die Sterne verschleiert
Fingerzeige, Antennen, Äste und Zweige vor
gedämpftem Geflimmer, verwackeltem Bild
aufklarend in Zeitlupe ein Lichterpark
mit sich erhellenden galaktischen Hebewerken
planetarischen Karussells und Looping-Schaukeln
schweifende Satelliten in zeitlichen Schieflagen
kosmisches Licht, gestreut und geschüttet
fällt, blinkt, pulsiert, gedehnt und gerafft
Spuren, Signale verschiedenster Zeiten.
Die größten Spiegel der Welt – weiß man –
Teleskope in der Atacama-Wüste schauen
in eine Vergangenheit, die teilweise Milliarden
Jahre zurückliegt, um Erkenntnisse
für die Zukunft zu gewinnen. Das Kippfenster
zudrückend sehe ich wie schon gestern Abend
zwischen kahlem Geäst die auffliegende Eule.
Aus der Nähe – 2020 Dali 2020 – aus der Ferne
La persistencia de la memoria – seh ich ein junges Mädchen
plötzlich durch böses Schicksal gealtert oder doch eine alte Frau
mit dem Habitus eines jungen Mädchens ich bin zu weit
entfernt es zu erkennen Gefahr der Ansteckung birgt Nähe zudem
fehlt mir die Energie mich anzunähern ich empfinde als
liefe die Jugend mir davon und selbst da schwanke ich
ob nicht mehr Schritt ich halten kann mit Jüngeren
die eigene Jugend sich verflüchtigt noch schwebe ich
wie eingefroren in der Zeitwolke der vergangenen Woche
erstarrt wo ist gestern wo ist morgen nichts geschieht
blick zurück ich auf die überwundene Pandemie oder
steht die zweite Infektionswelle bevor geht es nach unten
oder oben das Leben läuft wie auf CD gepresst ich sitz im
Riesenrad wie auf dem Jahrmarkt nur lustig ist es
nicht sondern ohne Bedeutung unter der
Frühlingsseuchensonne soll es tauen locker werden
auf dem Boden sehe ich Ameisen Fliegen in der Luft
das Harte wird weich und ich hänge da eine zerschmelzende Uhr
aus der die Zeit tropft.
Umlaute die Glocken läuten
Umläutet von ewigen Glocken und Klingeln
ich werde umleutet von Paaren und Singlen
umhäusert von endlich barocken Gebäuden
umstellt und umwandelt mit Angst oder Freuden
umkurvt und umrollert von Scootern und Rädern
umschattet, umflattert von Tauben und Federn
Umgebung umfasst mich, Gleichgewicht schwindet
noch einmal aufscheint, ertaubt und erblindet
in Umluft betaubt und in Wohlgefallen
das Ich löst sich auf in Steigen und Fallen ..
Jochen Stüsser-Simpson liest, joggt und schreibt gern in verschiedenen Landschaften und Genres,
entlang der Elbe, im Bereich der Lyrik, schreibt auch literarische Prosa, gelegentlich Fachartikel. Letzte Veröffentlichungen in:
Axel Kutsch (Hg.), Versnetze_14, Verlag Ralf Liebe, April 21.
Anton G. Leitner (Hg.): Gedichte für alle Liebeslagen, Reclam Verlag 21.
#kkl zum Thema: Liebe kann
Schauderwelsch, Papierfresserchen-Verlag, Langenargen 2019. Kurzgeschichten und Lyrik,
Einzelveröffentlichung 330 S.
Ältere und neu veröffentlichte Texte siehe Internet.