Aufbruch

Mona Ullrich für #kkl6 „Zeitenwende“


Aufbruch

Die Welt ist draußen und unruhig. Ich höre durch das offene Fenster Alarmsirenen.

Ich habe ein großes Projekt: ich will gegen Hass und Verständnislosigkeit angehen. Deswegen schreibe ich jetzt.

Ich erfinde eine Frau, die fünfunddreißig Jahre alt und blond und gutmütig ist. Sie heißt Angelika. Sie arbeitet in einem großen Berliner Kaufhaus in der Wäscheabteilung. Sie liest in ihrer Freizeit Fantasy-Romane und träumt sich in vergangene oder ganz fremde Welten.

Sie bekommt eines Abends Streit mit Erich, ihrem Ehemann. Sie hat ihn gegen sich aufgebracht, weil sie von dem Essen etwas übrig ließ, das er gekocht hatte.

Er war ihr böse. Sie wusste nicht, wie sie sich verteidigen sollte. Sie hatte das Essen wirklich nicht gemocht- die Pellkartoffeln hatten sonderbar geschmeckt.

„Ich koche nie mehr für dich!“ bekam sie zu hören. Sie brach schließlich in hilfloses Weinen aus, und da sie es mit ihm in der Wohnung nicht mehr aushielt, ging sie hinaus auf die Straße.

Der Abend war mild und dunstig. Es war ein besonderer November. Jeden Tag schien die Sonne und leuchtete in alle Winkel.

Unschlüssig ging sie die Straße hinab zum S-Bahnhof Lichterfelde Ost. Wie sollte es mit ihr und Erich weitergehen? So konnten sie doch nicht bleiben! Wie sollten sie an diesem Abend zur Ruhe kommen und schlafen?

Die Geschäfte waren geschlossen. Aber der Obst- und Gemüsestand im S-Bahnhof arbeitete noch. Dort war fast immer jemand.

Sie wollte Erich ein Geschenk mitbringen- eine Geste des guten Willens und der Versöhnung. Sie betrachtete die Auslagen und hörte dabei das Gespräch zwischen einer anderen Frau und dem Verkäufer mit.

Diese andere Frau war eine auffällige Erscheinung. Sie trug einen langen schwarzen Mantel mit einer eleganten Kapuze und einen roten Schal. Auch ihre Schuhe waren rot.

Sie sprachen über Opfergaben für heidnische Rituale. Der Verkäufer war unsicher und irritiert, aber beflissen. Die Frau erklärte ihm, dass jeder Mensch die Pflicht habe, im Kampf zwischen Gut und Böse die gute Seite zu stärken. „Wenn wir das alle machen würden, wäre die Welt ein besserer Ort!“

„Glauben Sie das wirklich?“

„Stellen Sie sich das nur vor- wir alle! Es wäre jedenfalls ein Zeichen des guten Willens!“

Das überzeugte Angelika. Sie sah zu, wie die Frau Äpfel und Nüsse auswählte. Sie wartete still. Sie hatte ja Zeit- oder nicht?

„Was machen Sie damit?“ fragte sie schließlich, als die Frau ihren Einkauf in einer großen schwarzen Tasche untergebracht hatte. „Was ist das- ein Opfer?“

Die Frau lächelte. „Kommen Sie doch einfach mit!“

Sie schlugen den Weg zum Bäkepark ein. „Hier,“ sagte die Frau, „ist es ruhig. Und ich brauche Bäume, am besten am Wasser.“

Sie gingen am Teltowkanal entlang.

„Sie wollen die Welt retten?“ fragte Angelika. „Wie soll das denn gehen? Wollen Sie die Bäume retten oder so?“

„Wir müssen bei uns selbst anfangen!“ antwortete die Frau. „Wir müssen wissen, was wir wollen und wohin wir gehören. Ich gehöre zu denen, die retten wollen. Wir müssen ein Beispiel geben. Mein Opfer ist hübsch, das werden Sie sehen, und morgen freut sich darüber ein Kind oder ein Tier.“

Sie hatte einen Baum entdeckt, hoch, mit ausladenden Ästen und gelbem Laub, das im Schein der Straßenlaternen schimmerte.

Dort legte sie ein rotes Tuch hin, dicht am Stamm, und packte die Äpfel und Nüsse darauf. Das sah wirklich hübsch aus. Angelika wurde fast wieder  glücklich, als sie das beobachtete.

„Da!“ sagte die Frau zu ihr und hielt ihr einen Apfel hin. „Der ist für Sie! Sie haben vorhin so verloren ausgesehen.“

„Vielen Dank!“ Da hatte sie ja ihr Geschenk für Erich, und sie konnte auch eine Geschichte dazu erzählen.

„Was war los?“ fragte die Frau.

„Ich habe mich mit meinem Mann gestritten. Ich glaube, ich habe ihn verletzt.“

„Wenn Sie das einsehen, ist das schon viel wert. Warten Sie- ich spreche ein Gebet für uns beide.“

Die Frau hob die Arme und rief die Erde und den Himmel und die Wassergeister und den Baum an: „Helft uns bei allen guten Werken! Und schenkt uns ein bisschen Glück!“

„Ist das nicht egoistisch- um Glück zu bitten?“ fragte Angelika. „Was hat denn die Welt davon?“

„Kindchen, alles, was uns aufbaut, ist gut! Ein unglücklicher Mensch kann nicht kämpfen!“

Auch das überzeugte Angelika. Die Frau gefiel ihr.

„Was können mein Mann und ich tun, um die Welt besser zu machen?“

„Da sein, wenn Sie gebraucht werden! Bäume retten, Alte pflegen, Kindern bei den Schularbeiten helfen. Das mache zum Beispiel ich. Ich bin auch in der Friedensbewegung.“

Von der wusste Angelika kaum etwas. Sie nahm sich vor, sich zu informieren.

Sie begleitete die Frau noch ein paar Straßen weit, bis sich an einer Kreuzung ihre Wege trennten.

„Gute Nacht und viel Glück!“

„Gute Nacht!“ sagte Angelika. „Sie haben mir sehr geholfen!“

Sie machte sich auf den Heimweg. Sie fühlte sich wieder elend, aber sie wollte nicht aufgeben. Sie ging weiter.

Erich hatte sich vor seinem Computer verschanzt und antwortete nicht, als sie ihn begrüßte. Er war wohl böse, weil sie weggelaufen war.

Sie legte den Apfel neben ihn. Der Apfel war groß und rot und gelb. „Das ist für dich. Es tut mir leid, dass wir gestritten haben.“

„Ich koche nie mehr.“

„Doch. Du musst. Ich bin dir auch dankbar- ich bin ja abends immer so müde. Es waren nur die Kartoffeln. Da hatte ich nicht gut eingekauft. Dafür kannst du nichts.“

Diese Rede gab ihr der Anblick des Apfels ein. Die Frau aus dem Bäkepark schien auch hinter ihr zu stehen und zu helfen. Der Apfel war ein Bild des guten Willens.

Und da- Erich biss hinein. „Willst du auch?“ fragte er und hielt ihr den Apfel hin. Sie nickte. Sie aßen den Apel zusammen.

Dann fragte sie: „Was hältst du von der Friedensbewegung? Wäre das was für uns?“

Und an dieser Stelle verlasse ich meine Heldin, denn ihr guter Wille hat gesiegt und keinen Hass aufkommen lassen.

Ein Anfang ist gemacht, wenn wir einander verstehen.



Mona Ullrich wurde 1957 in Waldshut-Tiengen geboren. Sie wuchs von 1965 bis 1976 in Lampertheim/Hessen und in Worms am Rhein auf und studierte in Tübingen und Berlin Soziologie und Germanistik. Sie schreibt seit ihrer Kindheit, seit 1985 ernsthaft und für die Erwachsenen, Romane und Gedichte, von denen einige bereits in Zeitschriften und Anthologien veröffentlich worden sind, z. B. wiederholt in Versnetze  und in „Gewaltige Metamorphose“. 2016 erschien ihr Gedichtband „Kleine Gaben für Freihäupter“ bei der Edition Thaleia. 2019 sollte ihr phantastischer Roman „Gegenmacht“ beim Verlag Schwarzer Drachen erscheinen. 2020 erschien ihr Roman „Die Liebe, die Seuche“ beim Achterverlag. Sie veröffentlicht auch im Smartstorys Verlag.

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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