Drei Fremde

Christiane Schwarze für #kkl7 „Ursache und Wirkung“



Drei Fremde

In dem Augenblick, als die Lehrerin das Mädchen mit dem schwarzen Haar vor sich her in unsere Klasse schob, wünschte ich mir, es würde meine Freundin werden.
„Das ist Fabiola Sanchez aus einem Dorf in Spanien. Sie spricht kein Wort Deutsch!”
Die Stimme der Lehrerin vibrierte. Es klang wie ein Vorwurf, als habe sich das Mädchen eine unverschämte Frechheit ausgedacht, und sie, die Lehrerin, dürfe es nicht zurechtweisen und hinschicken, wo es hingehörte, nämlich postwendend hinaus aus dieser Klasse, zurück nach Spanien
Sie wies dem fremden Mädchen einen Platz vorne beim Pult zu, als sei es wichtig, es im Auge zu behalten, oder als ob es den anderen Kindern nicht zu nahe kommen sollte.

Fabiola schien wirklich kein Wort Deutsch zu verstehen, denn sie saß den ganzen Morgen völlig teilnahmslos da. Als der Unterricht zu Ende war, schaute ich im Vorübergehen in ihr Gesicht.
Sie hatte schönere Augen als alle anderen Mädchen in der Klasse. Ich wünschte mir, sie möge in meine Augen blicken und begreifen, dass ich sie gerne kennenlernen würde.
Ihr Blick aber glitt hinab zu meinen vernarbten Beinen und den Gehstützen.
Es hatte mich schon immer wütend gemacht, wenn Menschen nicht in mein Gesicht, sondern auf die Beine schauten. Dieses Mal aber gab es mir einen tiefen Stich, ich fühlte mich bloßgestellt und hinkte mit meinen Stützen so schnell weiter, wie ich nur konnte. Ihren Blick fühlte ich noch auf meinem Rücken, bis ich am Ende des Pausenhofes um die Ecke der Schule bog.

In den folgenden Wochen ertappte ich mich immer wieder dabei, wie ich mitten im Unterricht vor mich hinträumte.
Zum Beispiel stellte ich mir Fabiola auf einem Pferd vor, so ähnlich wie St. Martin. Sie verteilte an alle Kinder Brezeln, mich aber hob sie hinauf, ritt mit mir spazieren und teilte ihre eigene Brezel mit mir.
Da Fabiola mich aber weder in den Pausen noch nach dem Unterricht auf einem Pferd abholte, wusste ich nicht, wie ich sie ansprechen sollte.
Ich überlegte, ob sie vielleicht eine andere Freundin wollte, die nicht beim Sport auf der Bank sitzen musste und keinen Mann bekommen würde. Die Lehrerin hatte mir erklärt, da mich niemals ein Mann heiraten würde, müsse ich fleißig für die Schule lernen, um mein eigenes Geld zu verdienen. So würde ich später anderen Menschen nicht zur Last fallen.
Allerdings versuchte auch kein anderes Kind aus der Klasse, Fabiola anzusprechen.
Der Unterricht und die Pausen gingen so weiter, als gäbe es kein Mädchen aus Spanien. So hatte wohl auch die Lehrerin das Problem für sich gelöst. Sie blickte durch Fabiola hindurch, als sei sie nie zu uns in die Klasse gekommen.

Ob jemand meine verstohlenen, sehnsüchtigen Blicke bemerkte? Ob die Tochter der Frau Doktor und die Tochter des Herrn Lehrers nicht mit ihr sprechen durften wie ich mit Horst Knödler?
Horst konnte nicht so gute Aufsätze schreiben wie ich und auch nicht so schnell denken. Seine Kleider hatten vor ihm schon die älteren Brüder getragen, und er wusch sich, glaube ich, nicht jeden Tag.
Er blickte mir aber immer in die Augen, als bemerke er die Beinschienen und Gehstützen gar nicht. Als er mir eines Tages von seinem Kaugummi die Hälfte abgab, und wir nebeneinander kauend den Bürgersteig entlangliefen, hatte ich einen Freund.
Von nun an brachte er mich immer fast bis nach Hause. Er schlenderte langsam neben mir her, so dass ich ohne Anstrengung mithalten konnte. Das taten nicht einmal meine Eltern.

Zuhause verschwieg ich meinen neuen Freund, denn ich wusste, Sauberkeit und guter Umgang waren das Wichtigste. Als Horst eines Tages klingelte, meine Mutter öffnete und ihn wegschickte, wusste ich, dass alles vorbei war. Sie telefonierte mit der Lehrerin, und diese achtete nun darauf, dass ich mit dem „Hochhausjungen“ nicht mehr redete. Wir wurden weit auseinandergesetzt, mit braven Kindern zwischen uns, so dass wir auch keine Zettel schreiben konnten. Die braven Kinder sollten der Lehrerin gleich melden, wenn sie uns gemeinsam sähen.
So konnten wir meinen Heimweg nicht mehr zusammen gehen. Erst jetzt fiel mir auf, dass Horst nie wollte, dass ich ihn zu dem Hochhaus begleitete, in dem er mit seinen sieben Geschwistern und der Mutter lebte.
Noch lange danach bemerkte ich, dass Horst mich heimlich anschaute.

Ob Fabiola wusste, dass ich sie beobachtete?
In den Sommerferien dachte ich mir immer neue Möglichkeiten aus, auf Fabiola zuzugehen. Aber es war schwierig, weil ich kein Spanisch und sie kein Deutsch sprach. Ich konnte auch nicht einfach zu ihr gehen und wie Horst einen Kaugummi teilen, da ich beim Stehen die Gehstützen festhalten musste. Ich hätte mich erst setzen und die Stützen abstellen müssen, um den Kaugummi durchreißen zu können. In meinem Kopf schwirrten die Möglichkeiten, ich wog immer neue Ideen ab.

Im nächsten Schuljahr begrüßte uns die Lehrerin mit den Worten: „Fabiola Sanchez wird nicht mehr kommen.“
In ihrer Stimme schwang Triumph, als habe sie uns einen Sieg mitgeteilt.
Ich starrte auf den leeren Platz vor dem Pult, dann zu Horst Knödler.
Aber Horst schien meinen Blick nicht mehr zu suchen. Er sah aus dem Fenster.



Christiane Schwarze

Geb. 1960 / lebt in Homberg (Ohm) / ehem. Logopädin in eigener Praxis, jetzt freie Schriftstellerin / Mitglied im VS und der Schreibwerkstatt Marburg / zahlreiche Literaturpreise / internationale Künstlerstipendien (Deutschland, Frankreich, Schweden, Schweiz, Spanien) / zahlreiche Lesungen im In- und Ausland / sieben Bücher, davon drei zusätzlich in Brailleschrift und zwei als Hörbuchversionen für Blinde / fünf musikalisch-literarisch inszenierte Hörbücher (mit ihrem Duo TonSatz) / über 300 Einzelveröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Anthologien und Kunstprojekten (Deutschland, Österreich, Schweiz, Dänemark, Spanien) / www.christiane-schwarze.de

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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