Lisa Gollubich für #kkl7 „Ursache und Wirkung“
Die Fliehkraft
Wenn man einen Körper entlang einer Kreisbahn bewegt, bekommt man seine Trägheit zu spüren. Es ist die elementarste Eigenschaft aller Körper. Es ist die Eigenschaft, die ihn seiner Existenz versichert. Im Gegensatz zur Zeit, die nicht wahrnehmbar ist, kann man jeden Körper in irgendeiner Dimension wahrnehmen. Man kann sagen, dass jeder Organismus unabhängig von seiner Größe und Sichtbarkeit von irgendeinem anderen Organismus schon einmal wahrgenommen wurde. Die Natur verschafft sich selbst Gewissheit, auch wenn sie nichts davon weiß. Gewissheiten haben es so an sich, dass man nicht an sie denkt, wenn sie da sind. Erst wenn man zweifelt, wird einem der Verlust der Gewissheit bewusst und man strebt nach Wiederherstellung. Was war zuerst, muss man sich fragen: Zweifel oder Ungewissheit? Wenn man sich das fragt, ist es schon zu spät.
Ich wollte mich an der Lust eines Kettenkarussells erfreuen und bezahlte an der Kassa für eine Fahrt. Es war Mai, endlich war es grün geworden und die Sonne brannte herunter wie im Juli. Der Betreiber kontrollierte die Kette jedes Passagiers einzeln. Ich kam mir vor wie in einem Kinderhochstuhl, angekettet, eingesperrt. Fast entstand der Eindruck, Windeln zu tragen, die genau in den Sitz passten. Ich fühlte mich wie ein Kind, aber genau das wollte ich ja. Dann ging es endlich los.
Wir wurden aufgehoben. Die Ketten strafften sich, ihre gewundenen Glieder klappten in die einzig mögliche Position, Metall auf Metall. Es war schön zu sehen, wie alles funktionierte. Man konnte richtiggehend spüren, wie intakt das Karussell war. Sauber, gewartet, tadellos. Aber dann bemerkte ich, als brauchte es einen Ruck, um sie zu bemerken – die Fliehkraft. Ich spürte ihr Einwirken auf den Karussellsitz und ihr Einwirken auf mich. Ich war ein Körper genauso wie der Sitz ein Körper war. Und auf Körper wirken Kräfte. Sie bieten ihnen einen Ansatzpunkt, einen Halt im Raum. Ich dachte: Ohne mich wäre die Fliehkraft ohne Wirkung. Dabei spürte ich das erste Mal in meinem Leben die Lage meiner Organe, die sich verschoben, aufeinanderdrückten, vom Mittelpunkt des Karussells aus nach außen flohen, wie sie wegflogen – so war meine Empfindung. Ich verschränkte die Arme und hielt mich an mir selbst fest, denn ich hatte den Eindruck, dass sich mein Körper zerstreute wie freigelassene Luft. Es war wie eine Lösung, in die mein Körper langsam überzugehen drohte. Und dann fühlte ich durch alles hindurch das Nachlassen der Fliehkraft, als wir uns dem Boden wieder näherten. Ich war geflogen, dachte ich am Boden.
Als ich auf dem Heimweg war, der Prater war nicht weit entfernt von meiner Wohnung, fühlte ich mich locker. Es war, als wäre ich mir selbst zu groß geworden. Als wäre mein Fuß im Schuh geschrumpft. Mein T-Shirt flatterte im Wind, die Hose saß locker, ich spürte den Spalt zwischen den Zehen und der Schuhspitze. Irgendetwas hatte sich verändert. Und ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass es eine Veränderung ohne Möglichkeit zur Rückkehr war, genauso wie man geboren wird und selbst der Tod das Verlebte nicht mehr rückgängig macht. So ist das Leben, dachte ich und öffnete das Haustor.
Nachts lag ich im Bett, ich lag immer lange wach, lauschte in die Überlagerung der Naturgeräusche, die vom Garten hereindrangen und zugleich aus meiner Stereoanlage kamen. Ich hatte die Wahl zwischen Thunderstorm, Rainforest, Morning Songbirds und Frog Chorus. Meistens mischte ich die unterschiedlichen Aufnahmen, sodass ich mich nie richtig an eine gewöhnen konnte. Das war mein Rezept zum friedvollen Einschlafen. Ich dämmerte schon dahin, alles um mich herum und in mir war ruhig. Ich spürte den Schlaf kommen. Und ich fühlte, wie mein Herz sich allmählich zur Ruhe legte, wie es friedlich dahinpumpte mit sich vermindernder Frequenz. Ich war in die nächtliche Symbiose mit meinem Körper gelangt, als ich es plötzlich hörte.
Es pumpte. Es pumpte aus mir heraus. Es pumpte wie hinausgestülpt und im vollen Hall des Schlafzimmers. Ich hörte es deutlich. Von innen kam es und nach außen ging es. Es war, als hätte ich mein Herz ohne es zu wollen herausgeboren. So ungreifbar weit außen wie ein Inventar des Raumes, dabei noch immer ein Inventar meines Körpers. Ich sprang hoch, stieß gegen den Ballon meiner Schlafzimmerlampe und landte neben dem Bett in Liegestützposition. Ich pumpte, pumpte bis nichts mehr ging und ließ mich auf den Boden fallen wie ein sterbender Fisch. Dann hörte ich es wieder. Es pumpte, ich spürte den Puls durch meinen Körper fahren, wie das Blut gleichermaßen gegen die Gefäße wie gegen den Boden drückte. Ein Beben der Erde oder ein Beben in mir? Ich sprang hoch und versteinerte, um die Verrückung wahrnehmen zu können. War sie in mir oder der Welt?
Ich erwachte mit meiner Rechten auf dem Brustkorb. Die letzte Nacht lag im Dunst wie eine Niederung. Ich erinnerte mich unbestimmt wie an einen Traum, einen Traum, den man in der Erinnerung durch gezieltes Denken ansteuert, aber nicht erreicht. Da versetzte mir mein Herz einen Stoß wie ein Kind im Bauch. Ich spürte es durch den Brustkorb hindurch. Kurze Zeit blieb mir der Atem weg. Wie in einem schwarzen Loch, dachte ich. Und mit diesem Gedanken spürte ich mein Herz wieder einsetzen, spürte wieder den Puls an der Stirn. Ich fasste den Entschluss, einen Internisten aufzusuchen.
Ihr Herz ist nicht an der richtigen Stelle, sagte der Internist, als ich neben ihm auf der Lederliege lag. Es ist verrückt, sagte er, es ist, als wäre es durch Fliehkraft verschoben worden. Ich sagte nichts, denn ich fürchtete Schlimmeres. Ich nickte ihm zu wie ein unkundiger Patient, der eine andere Sprache spricht. Was soll man tun?, fragte ich ihn zum Schluss. Vermeiden Sie alle Rotationsbewegungen, sagte er kurz und deutete auf die Tür, hinter der schon der nächste Patient wartete.
Ich vermied also jede Bewegung auf der Kreisbahn. Wenn ich im Stiegenhaus die Treppen in den 5. Stock hinauf ging, bemühte ich mich, möglichst langsam die Kurven zu beschreiten, sodass die Fliehkraft nicht noch weiter die Lage meiner Organe beeinflusste. In der U-Bahn drückte ich mich in der Kurve gegen die nächste Wand. Aber allmählich begann ich die Verrückung meiner Organe noch deutlicher zu spüren. Wie ein Phantomschmerz einem in Erinnerung ruft, wo etwas war, das nicht mehr ist, machte sich ein allgemeines Gefühl der Abweichung breit. Ich konnte mich erinnern, wo mein Herz einmal war und umso schlimmer empfand ich die Veränderung. Was tun?, fragte ich mich und fand keine Antwort.
Alles ist schon von vornherein verrückt gewesen, dachte ich mir, als ich auf dem Wilheminenberg saß und auf die Stadt hinunterblickte. Es hat sich alles von der Ferne angekündigt. Ich dachte an meine Mutter. Sie hatte mir in den letzten Wochen vor ihrem Tod alles über mich erzählt, denn es sei wichtig, über sich und seine Herkunft Bescheid zu wissen, sagte sie. Ich hatte nie mehr mit ihr geredet als in diesen zwei Wochen. Selbst wenn man alle Schnitzel der Erinnerung zusammenfügt, alles, was man je mit den Eltern gesprochen hat, kommt man nie an das heran, was man unmittelbar vor dem Tod spricht. Das gilt wenigstens für mich. Sie sagte:
Du bist im Buggy gelegen und ich habe gestrickt. Von links nach rechts und von rechts nach links. Und deine Augen folgten aufmerksam den Reihen. Von rechts nach links und von links nach rechts. Dann kam die Nachbarin, und sie sagte, das sei nicht normal, das entspreche einfach nicht der Norm. Ein Kind muss schreien, schreien den ganzen Tag!
Ich sah dem Vollmond entgegen. Er prangte über mir, wie ich über der Stadt prangte. Ich saß auf der Wiese, wo im Advent die Weihnachtshütten standen, wo man sich sinnlos betrank, denn dafür sind entlegene Orte gut. Ich sah ihn, den Mond, und spürte mit einem Mal seine Kraft. Es war, als hätte er mich mehr als alle anderen Körper in seiner Gravitation erfasst, als wäre nicht die Erde als Gesamtheit das Objekt seiner Kraft, sondern ich. Ich war plötzlich massereicher als alles andere, als der Planet, auf dem ich mich befand. Ich fühlte den beschleunigten Wechsel von Ebbe und Flut in mir, der das Wasser einmal auf die eine Seite und einmal auf die andere drückte. Da war sie wieder, in voller Präsenz, die Verrückung meiner Organe. Mein Körper war erfasst von der Kraft des Universums, der Schwerkraft.
Actio = reactio.
Das war zeitlebens das Credo meiner Mutter. Sie sagte es, als handele es sich um die zentrale Erkenntnis ihres Lebens. Ich hütete diese Erinnerung genauso wie das Prinzip. Es lag in allen Dingen. Im Urteil unserer Nachbarin genauso wie in Ebbe und Flut. Es war eines der Prinzipien, das der Welt zugrunde liegt. Nur die Fliehkraft war anders. Sie war eine Scheinkraft. Und ihre Reaktion auf eine Kraft war die Flucht. Alles was träge ist, hat das Potential zu fliehen. Fraglich bleibt nur, ob man überhaupt fliehen kann. Denn meistens ist man gezwungen zu bleiben oder sich einer anderen Kraft zu beugen.
Ich hatte alles in Gedanken ausformuliert. Ich hatte meine Erkenntnisse auf die Tafel meines Verstands geschrieben. Und ich beschloss, noch heute in den Prater zu fahren. Denn ich wollte mich dem Elementaren stellen, dem Wirken der Welt auf mich selbst. Ich sprang auf, lief über den Vorplatz des ansässigen Hotels zur Bushaltestelle und erreichte den nächsten Bus in die Stadt gerade rechtzeitig. Das Wanken der Stoßdämpfer empfand ich wie ein Wanken auf Wellen. Es rückte meinen Körper mal auf die Seite, mal auf die andere. Ich konnte spüren, wie meine Organe aus ihrer starren Position aufgeweicht hin und her rutschten. Mein Herz pochte entschlossen wie das eines jungen Mannes. Ich spürte, wie die Herzspitze regelmäßig gegen das Brustbein schlug. Es klang wie eine Turmuhr zur vollen Stunde. Ich fühlte mich das erste Mal seit langer Zeit wieder gesund und kräftig. Dann erreichte ich die U-Bahn, und dann den Prater.
Als ich das Tor zum Vergnügungspark passierte, es war längst Nacht, ich wusste nicht, wie spät, sah ich nur noch lückenhaftes Leuchten. Ich durchschritt den gesamten Wurstelprater und musste hinnehmen, dass das Kettenkarussell schon seit Stunden geschlossen war. Ich stellte mich davor, begutachtete es und dachte an die letzte Fahrt und an die Fahrt, die ich demnächst nehmen würde.
Lisa Gollubich, geboren und aufgewachsen in Niederösterreich, Studium der Biologie und Germanistik in Wien, Veröffentlichungen in deutschsprachigen Literaturzeitschriften, Debüt im Winter 2021 bei Edition Mosaik (Erzählband „Die Sensation eines Körpers“)