Alltag

René Kanzler für #kkl8 „Das Wesentliche“




Alltag

In einem Studierzimmer, dessen Wände mit prallgefüllten Bücherregalen verziert sind, sitzt er an seinem großflächigen Schreibtisch im Sonnengold eines sich langsam zum Abschluss begebenden Herbsttages. Vor ihm liegt ein Papier. Darauf sind Verse zu lesen. Einige sind durchgestrichen; nur wenige sauber ausgeschriebene sammeln sich und lassen die Entstehung einer schweifgereimten Strophe mit ausschließlich weiblichen Kadenzen erahnen.

Er denkt an sie, an ihre blauen Augen, die selbst seine dunkelsten Tage erhellten, an ihren Schwanenhals, ihr Lächeln, ihren Gleichmut und ihre seidenen Hände, die immerzu das Bügeleisen behände über seine Hemden gleiten ließen, auf dass eine nie dagewesene Zartheit selbst beim steifsten Hemd Wirklichkeit wurde. Wo sie, die einzig Wahre, nun sein mag – er weiß es nicht. Seit Monaten sahen sie sich nicht mehr. Er trägt seit ihrem Abschied keine Hemden, stattdessen nur noch Hoodie und Jogginghose.

Gerade kommt ihm eine Idee für einen weiteren Vers, da klopft es an der Tür.

„Herein.“

Sein Sekretär betritt mit einem vollgepackten Jutesack das Studierzimmer und schreitet andächtig zum Schreibtisch, wobei er schelmisch grinst.

„Fanpost?“

„Fanpost!“

Der Sekretär entleert den Jutesack auf dem Schreibtisch, der sich zur Gänze mit Kärtchen, Briefen und sogar dem ein oder anderen Päckchen füllt. Das Papier mit den Versen verschwindet komplett unter der Masse an Zusendungen. Er seufzt und schaut sich die Absender an. Plötzlich stutzt er. Sein Sekretär lächelt vielsagend.

„Alles vom selben Absender?“

„Alles vom selben Absender!“

Er nimmt sich den ersten Brief vor, liest kurz hinein und erschrickt. Irgendein Stümper schickte ihm ein Gedicht von gerade einmal vier Zeilen, welches der Stümper aber lang und breit und hoch und runter und vor und zurück und wieder lang und breit auf insgesamt vierzehn Seiten erklärte, Querverweise darbot und zusätzlich dazu vermeintlich tiefer gehende Frage stellte. Missmutig und erzürnt schaut er zu seinem Sekretär.

„Jede Woche der gleiche Mist?“

„Jede Woche der gleiche Mist!“

„Brennt der Kamin im Speisezimmer?“

„Noch nicht, aber gleich lichterloh!“

Der Sekretär kramt jede Zusendung wieder in den Jutesack und verschwindet damit schweigend. Unterdessen nimmt er einen neuen Zettel zur Hand und schreibt folgende Zeilen:

An den Herrn gar nicht so wohlgeboren von und zu Stümper

Jeder Eigenkommentar –

angereichert oder ärmlich –

schreit bloß: „Nimm mich endlich wahr!“

und ist, folglich, schlicht erbärmlich!

Wird der Leser nicht gereizt,

weil die Verse ihm nichts geben,

wird mit Schweigen nicht gegeizt –

Stümper, lern‘, damit zu leben!

Wer statt seiner Verse spricht,

so will ich es deutlich sagen,

taugt zum Dichten einfach nicht,

magst du, Stümper, noch so klagen!

Tiefstachtungsvoll

GröDaZ


Immer noch zornig faltet er den Zettel zusammen, steckt ihn in einen kleinen Briefumschlag und schließt diesen sorgfältig. Schnell sind Adressat und Absender darauf vermerkt, dann legt er den Umschlag beiseite. Er schließt seine Augen und sieht das Lächeln der einzig Wahren. Er atmet tief durch und beruhigt sich, ehe er sein neustes Werk, das er ganz allein ihr widmen wird, fortsetzt.




René Kanzler ist ein in Torgau ansässiger Philosoph, Schriftsteller und Fotograf. Er forscht zur stoischen Philosophie und leitet in Torgau die Schreibgruppe „Sprachgewand(t)“. Mehr Infos unter: http://www.rene-kanzler.com

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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