Jonas Müller für #kkl8 „Das Wesentliche“
vom Untergang des Wesentlichen
Es war einmal, oder wird dereinst einmal gewesen sein, wenn man so will, je nachdem von wann, auf dieser unserer trauten Zeitachse man schauen mag…
Jedenfalls war da dieser Junge, ein Schüler, Wipp mit Namen, der wie so viele sich nicht durch Besonderheiten auszeichnete, und also versuchte, wenn auch halbherzig, durch Auszeichnungen besonders zu werden.
Es begab sich nun einmal, dass dieser Wipp seine letzte Klasse des Tages eilig verließ, nicht aber ohne vor dem eigentlichen Ausloggen den „OUT“ Haken gesetzt zu haben. Zu oft hatte er es in den vergangenen Wochen vergessen und war mehrfach abgemahnt worden. Wie üblich ging er nach Schulschluss nicht direkt zu seiner Oma, sondern machte einen kleinen Umweg über ein paar Seiten, die ausdruckbare Süßigkeiten und aktuelle Ausgaben seiner bevorzugten an´s (animated novels – Fortsetzungsgeschichten) im Angebot hatten.
Angekommen stellte er, wie so oft beim Eintreffen dort, das erste Mal an diesem Tag bewusst fest, dass er sich seit dem Morgen in einer digitalen Umgebung bewegt hatte. Das lag daran, dass seine Oma sich störrisch weigerte, einen normalen Holo-Avatar zu benutzen, und anderen in der virtuellen Repräsentanz ihrer Behausung daher als 2-dimensionales Porträt auf einem umherschwebenden Flachbildschirm erschien.
Sofort bemerkte sie, wie üblich, Wipps trübe Stimmung und ließ sich seine Erklärung sogleich hinterher liefern: Namentlich, dass Wjino und Kassalak ihn einen Anus-Schwalup genannt hätten, nur weil er es nicht fertiggebracht hatte, den neusten Holo-Game-Hit („Porn Pimp 3 – getting virgins ready“) an den Sicherheitsprogrammen seiner Eltern vorbei herunterzuladen. Nicht wenige der Mädchen hatten die Sache mitbekommen und gekichert.
In der Miene seiner Oma konnte Wipp lesen, dass sie seinen Kummer sehr wohl verstand. Trotzdem winkte sie ab und sagte: „Ach, das sind nur Worte, die sind nicht wirklich was wert.“
„Unser Geschichtsmodul hat gesagt, dass Sprache das ist, was den Menschen einzigartig macht unter den Tieren, nicht die Digitalisierung, die sei nur…“, antwortete ihr Enkel, kam aber nicht weiter: „Ach, Tinnef! Willst du wissen, was die Sprache wirklich ist? Lass mich dir erzählen, wie es überhaupt dazu kam, dass die Menschen sprechen.“
Und sie erzählte ihm:
„Von der Entstehung der Rede“
Vor gar nicht allzu langer Zeit, das meiste gab es bereits, waren die Menschen nichts weiter als Affen mit einer Haut wie die der Seerobben, und einem Drang zum Bauen, gleich dem der Termiten oder Biber. Damals kannte man die Sprache noch nicht, Zeit wurde noch nicht in Zahlen, sondern in Helligkeit gemessen.
Es ist allerdings nicht sehr genau zu behaupten, dass die Menschen die Sprache noch nicht gekannt hätten, es ist nur so, dass sie bei ihnen dieselbe Verwendung fand wie bei den anderen Tieren auch: Pfeifen, Quietschen, Brüllen und Krähen wurden eingesetzt, um auf sich aufmerksam zu machen, ein Start- oder Stoppsignal zu setzen und gegebenenfalls Unmut oder Zustimmung zum Ausdruck zu bringen.
Selbst um ein Weibchen zu umwerben, bedienten sich die Menschen einer Art Sprache: einem Gesang ohne Worte. Es gab sogar Namen für einige Dinge, die es zu bezeichnen lohnte: Wollte man beispielsweise jemanden auffordern, eine spezielle Feldfrucht herbeizuschaffen oder eine bestimmte Person zu suchen. Darüber hinaus bezeichnete zu jener Zeit das Gesagte aber nie etwas, das man nicht sehen konnte oder zumindest schon einmal gesehen oder gefühlt hatte.
Jägergruppen tauschten damals Handzeichen aus, die so komplexe Zusammenhänge zum Ausdruck bringen konnten wie: „Ihr geht linksherum, wir rechtsherum, danach attackieren wir auf mein Zeichen. Ihr versucht dann die Jungen zu isolieren, während wir den Leitbullen beschäftigen.“
< Wipps Oma sah einen Augenblick lang versonnen vor sich ins Nirgendwo. >
Das war ein ganz anderes Leben damals.
Heute denken wir in sprachlichen Dimensionen, in Begriffen und grammatikalischen Zusammenhängen. Alles wird stets und ständig besprochen. Damals war die Welt vergleichsweise still, die Menschen meldeten sich nur selten zu Wort. Man hörte Blätter rauschen und Hasen husten, statt zu versuchen, den Ausführungen eines anderen zu folgen. Es wurde sich nicht ständig mit dem auseinandergesetzt, von dem man vermutet, dass die anderen es (insbesondere über einen selbst) denken – vor allem weil die Möglichkeit, dass diese anderen auch so ein komplexes Gedankengebäude im Schädel tragen könnten, nicht mehr als eine vage, vorüber flatternde Vermutung war.
Diese Ignoranz gegenüber den Intentionen und komplizierten Gefühlen der anderen war Garant für ein weitestgehend friedliches Zusammenleben.
Bevor Begriffe wie Neid, Missgunst, Eifersucht, Groll oder Hass existierten, waren auch die von ihnen bezeichneten Gemütsregungen nur rudimentär und sporadisch vorhanden. Solche Dinge gedeihen erst im darüber Reden und Nachdenken, im Grübeln und Lästern.
Hat man keinen Namen für das Gefühl, das entsteht, wenn ein anderer mit dem Mädchen abzieht, dem man schöne Augen gemacht hat, dann fehlt jede Rechtfertigung dieses Gefühls, jeder Beweis seiner Relevanz. Wenn man ferner niemanden hat, mit dem man darüber reden könnte und es weiter keine Begrifflichkeiten gibt, die einem gestatten würden Gedanken über dieses Phänomen zu formulieren, hat diese Emotion wenig, an das sie sich festkrallen könnte, und man wird feststellen, dass man sich schon nach kürzester Zeit nach jemand anderem umsieht, statt sich ausgiebig mit seinen inneren Regungen auseinanderzusetzen – wozu einem schlicht das passende Handwerkszeug fehlt.
Da komplexeren Emotionen aber erst durch diese innere Auseinandersetzung mit ihnen Leben eingehaucht wird, gab es sie damals allenfalls in Ansätzen. Das heißt nicht, dass die Menschen ganz ohne bedrückende Gefühle ausgekommen wären. Der Tod der Mutter oder das beinahe Verunglücken eines Kindes führten auch in jener Zeit zu Trauer und Schrecken, es brauchte aber jedenfalls einen Auslöser in der Umgebung hierfür, nicht wie heute, wo eine kleine Sorge, die einmal falsch abgebogen ist, völlig ausreicht.
Es waren also einfache, friedliche Tage: ein jeder fast ganz in Anspruch genommen von den Tätigkeiten und Begebenheiten vor seiner Nasen.
Dann aber kam ein Winter mit einer Kälte so bitter, den Menschen blieb nichts anderes übrig, als mit ihren Vorräten wochenlang in ihrer Winterhöhle zu hocken.
Da wurde die Zeit ihnen lang und Jäger und Sammler versuchten einander von ihren Erlebnissen auf der Pirsch und im Busch zu erzählen, um sie zu füllen.
Dabei entwickelten sich rasch immer mehr Wörter und Zeichen, die nötig wurden, um ein Ereignis zu schildern, das zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort stattgefunden hatte. Bald kamen auch solche hinzu, die im Stande waren zu erklären, wie es sich angefühlt hatte dabei zu sein, sodass die Menschen den Erzählungen besser folgen und mehr abgewinnen konnten.
Ab da entwickelte die Sprache sich rasant in alle bekannten Himmelsrichtungen, erfasste und durchdrang die Welt unaufhaltsam und sorgfältig wie ein Nieselregen. Bald gab es nicht nur Worte für alle sicht- und hörbaren Dinge, es wurden auch etliche nicht-gegenständliche Begrifflichkeiten ins Leben gerufen und zementiert, wo vorher nur vage Regungen des Herzens gewesen waren. Dann kamen freie Erfindungen hinzu.
Den Anfang machte ein junger Mann, der bei der Rückkehr in seine Lehmhütte deutlich spüren konnte, dass seine Freundin empfand, er wäre zu lange fortgeblieben, ohne dass es hierfür die noch recht junge Sprache der Worte gebraucht hätte. Er parierte also diese frostige Stille mit einer Erzählung darüber, wie er seinem Großvater, obgleich längst verstorben, auf dem Heimweg begegnet sei. Dieser wäre im leidenschaftlichen Liebesspiel mit einer Hirschkuh inbegriffen gewesen, beide durchsichtig und unstet wie Nebel.
Man mag sich hier wundern, dass eine erste erfundene Tatsache bereits derart blumig geraten sein soll, möge aber im Gedächtnis behalten, das das Erzählen von Ereignissen eine junge Kunstform war. Niemand hatte zu jenem Zeitpunkt mehr als eine Handvoll davon zu Ohren bekommen, sodass noch niemand darauf gekommen sein mochte zu fragen, ob eine Darstellung mehr oder minder plausibel sei.
Die Idee von geisterhaften Gestalten, seit jeher ein Evergreen, geht also bereits auf diesen allerersten Dichter zurück.
Bald schon fanden sich fiktionale Elemente in so gut wie allen Berichten wieder und zur Unterhaltung bediente man sich zunehmend frei erdichteter und stark ausgeschmückter Erzählungen. Um an Aufregung und Abenteuer teilzunehmen, musste man nicht länger Strapazen und Gefahren in Kauf nehmen, es genügte, es sich bequem zu machen und zuzuhören. Die Menschen wurden mit der Zeit träge davon und schließlich sesshaft: Bevorzugten es die Pflanzen, die sie zuvor gesammelt hatten, fortan mit der Wurzel auszugraben und hinter ihren Hütten zu kultivieren, wobei einer unter ihnen zur Zerstreuung aller ein Garn spinnen mochte, darüber, wie er einst – in den guten alten Tagen, als man noch ausgezogen war, um zu sammeln – in einem feuchten, dunklen Tal ein Feld Kürbisse gefunden habe, einige unter ihnen groß wie halbwachsene Kinder. Sie fingen die Tiere ein, die sie vormals zu jagen gepflegt hatten und legten sie an Stricke, sodass sie vor ihren Hütten grasen sollten, wobei ein ums andere Mal einer zur Belustigung der anderen drauf los fabulierte, wie sein Großvater einst, als die Männer noch täglich gejagt hätten, einen Bären mit einem Kieselstein erlegt habe oder dergleichen.
Umso mehr die Leute zu Hause blieben, desto komplexer wurden die Beziehungsgeflechte zwischen ihnen. War früher der eine ausgezogen zu jagen, während die nächste woanders sammeln ging und ein dritter sich um das Heim kümmerte, waren sie jetzt alle die meiste Zeit über am selben Ort zusammen. Dabei verwischten die Positionen und veränderten sich: Wer früher Jäger gewesen war, kümmerte sich zwar jetzt in den meisten Fällen um das Vieh, half aber, wenn nötig oder genehm, auch schon mal auf dem Feld oder im Haus mit: bis hin zu dem Wirrwarr an Rollen und Verbindungen, das wir heute noch kennen.
Mithilfe der sich stetig ausdifferenzierenden Sprache konnten immer mehr Aspekte dieses zusehends komplexer wuchernden Zwischenmenschlichen besprochen und weiter verkompliziert werden, sodass sich das Leben der robbenhäutigen Bau-Affen in zunehmendem Maße um Gefühle und Meinungen zu drehen begann.
Von da war es nicht mehr weit bis zu Sport-Denkern, die in Amphitheatern und Säulengängen rumhingen, wo sie sich gegenseitig versuchten weiß zu machen, dass eine gute Ernte eigentlich, bei genauerer Betrachtung, etwas Schlechtes sei; es andererseits wiederum aber nichts Gutes gäbe, das nicht aus etwas Schlechtem hervorgegangen wäre, und so fort.
Die Sprache, einst als Sortierhilfe entstanden, die es einem erlaubt, die Welt zu benennen und in Kategorien zu legen, brachte nun alles durcheinander. Sie hatte Werkzeuge entwickelt, die ihr eigenes Fundament untergraben konnten, und es fand sich da nunmehr kein Thema, bei dem nicht der eine behaupten mochte A sei B, oder B nicht grundlegend von C und D zu unterscheiden, während der nächste wieder sicher war, Hü sei Hott und nicht umgekehrt, und was nicht noch alles.
(Der pfiffige Leser hat es bereits von selbst gemerkt:)
Wissenschaft und Gelehrsamkeit waren entstanden und mit ihnen nicht nur tödlichere Waffen, sondern auch unzählige Forschungsarbeiten zum Menschen und seinen Befindlichkeiten.
Als das einige größere Zeiteinheiten lang so gegangen war, erkannte die Forschungsrichtung der Psychologen schließlich, dass die Höherentwicklung der Sprache der Kern allen Übels gewesen sei und der Mensch seither kaum anders könne, als sich immer mehr in den Tiefen zermürbender Reflexionen und auf schwindelerregenden Metaebenen zu verlieren, stets entweder in Seelenqualen verstrickt oder behext von der Angst vor den kommenden.
Zu diesem Zeitpunkt lebten die Menschen bereits größtenteils online und verließen ihre Wohn-Slots nur, wenn ihr persönlicher Stil dies verlangte.
Es mussten also zunächst einmal Ertüchtigungsprogramme entwickelt werden, um die Leiber der Leute erneut hinreichend funktionsfähig zu machen, bevor man die Sprache verbieten und ihre höheren Funktionen aus den Gedächtnissen löschen konnte.
Als dies geschehen war, lebten die Menschen wieder von der Hand in den Mund und dachten kaum weiter als bis zur nächsten Jagd oder der nächsten Begattung, glücklich und zufrieden wie die Made im Speck, wie man so sagt.
Bis eines Winters der Frost so stark war, es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich mit ihren Vorräten und Pelzen in einer großen Höhle zu verbarrikadieren. Da wurde die Zeit ihnen allmählich sehr lang, und sie fingen an zu versuchen, sich gegenseitig von ihren Erlebnissen des Sommers zu berichten…
Jonas Müller (*1984) wuchs in Berlin Friedrichshain auf und wurde zum Erzieher. Seitdem widmet er sich vernachlässigten und schwerst-mehrfach beeinträchtigten Kindern überall auf der Welt.
(Berlin – Nairobi – St. Petersburg – Douala…)
Sonst frönt er seiner Vorliebe für Abstruses und Überraschendes indem er Prosa schreibt und die Ergebnisse dann auf Lesebühnen und in Literaturcafes präsentiert.
(Worlds Loudest Library (Nairobi), Berliner Federlesen, Poetry Jam Session (Douala) und etliche mehr)
Jonas musiziert auch viel mit allem was ihm zwischen die Finger kommt (Klavier, Gitarre, Schlagzeug, Plattenteller, Computer…), betreibt Jonglage und erzählt Geschichten aus dem Stehgreif.
Als nächstes wird er als aufstrebender Autor die Literaturszene in helle Aufregung versetzen und Kritiker*innen sprachlos machen.
Nutzt die Chance und seid von Anfang an dabei.
Ein Kommentar zu “vom Untergang des Wesentlichen”