Das Fest

Christiane Schwarze für #kkl10 „Der nächste Schritt“




Das Fest

Sie war dagegen auch die Verwandten einzuladen, aber ihre Eltern meinten, wenigstens einmal im Jahr solle sie etwas Familiensinn an den Tag legen.
„Schließlich sind doch auch genug junge Leute da.”
Vater tippte Einladungskarten, welche Mutter dann mit Strohblumen dekorierte.
Sie konnte Einladungskarten mit Strohblumen nicht ausstehen.
Jedes Jahr hatte sie sich vorgenommen, einfach nicht mehr zu unterschreiben.
Doch den missbilligend hochgezogenen Augenbrauen des Vaters und dem stumm vor sich hergetragenen Leiden der Mutter konnte sie einfach nicht standhalten.
Auch dieses Mal hatte sie die Karten unterschrieben, auch dieses Mal waren alle Verwandten gekommen.
Rita fragte Mutter, ob der Salat mit Majoran gewürzt sei. Onkel Heinrich ärgerte sich über die finanzielle Eigenbeteiligung für Leistungen im Gesundheitsbereich. Onkel Ludwig fand, die jungen Leute wüssten gar nicht, wie gut sie es hätten heutzutage.
Die Jungen und Mädchen der evangelischen Jugendgruppe ließen sich von Mutter Kartoffelsalat auf ihre Teller laden. Onkel Friedrich freute sich, dass der Jugendgruppenleiter das Studium der Theologie ins Auge gefasst hatte. Irmgard unterhielt sich mit Oma. Das war immer so, denn Oma war früher Haushälterin gewesen, und Irmgard wollte Hauswirtschaftlerin werden.

Sie schwieg, weit weg mit ihren Gedanken. Träumte davon zu tanzen. In der Disco, in die die evangelische Jugendgruppe sie nicht mitnahm.
„Leider, leider geht das ja nicht.”
Mit zur Seite geneigtem Kopf und weicher Stimme hatte der Gruppenleiter das gesagt. „Leider, leider geht das ja nicht.”
Gegen Abend verabschiedete sich die Jugendgruppe. Die Verwandten blieben noch.

„Es war ein bisschen anstrengend heute, ich will mich etwas ausruhen”, log sie.
„Das ist wirklich vernünftig, Kind”, lobte die Mutter.
Sie beeilte sich, in ihr Zimmer zu gelangen.
Dort legte sie die Metallstützen mit den Kunststoffgriffen und den gummigenoppten Dreifüßen auf ihren Schoß.
Unbemerkt verließ sie das feiernde Haus. Schnell musste es gehen. Zwei Kilometer rollte sie vorwärts, peitschte mit den Händen auf die Reifen ein, dankte dem Himmel, dass die Bordsteine abgerundet waren.
Endlich die rote Leuchtschrift: HAPPY DAY!
Die Treppe hatte zwölf Stufen. Zum Glück stand gerade keiner rauchend oder biertrinkend an der Tür.
Sie nahm ihre Kraft zusammen, wuchtete sich aus dem Rollstuhl und klammerte sich an die Stöcke. Vorwärts – zwei Schritte.
Sie erreichte das Geländer. Mit der linken Hand ergriff sie es, mit der rechten schleppte sie die Stöcke und hievte sich Stufe für Stufe nach oben.
Gewonnen, sie stand vor der Tür.
Diese bestand aus blau gestrichenem Metall, zu öffnen durch Zug in Richtung Körper, beim Durchgehen festzuhalten, um das Zufallen mit schwerer Wucht zu vermeiden. – Eine Unmöglichkeit mit zwei Gehstützen.
Mehrere Mädchen kamen laut debattierend aus der Diskothek heraus, waren viel zu verblüfft, um etwas anderes zu tun, als die Tür aufzuhalten.

Bunte Lichtblitze und Musik umhüllten sie unvermittelt.
Von den allzu erstaunten Happy-Day-Besuchern unbehelligt, drang sie bis zur Tanzfläche vor.
So hatte sie es sich nicht vorgestellt.
Um wie viel wunderbarer war es hier, als in jeder Fantasie!
Spiegelkugeln blitzten, bunte Lichter zuckten im Rhythmus der Musik.
Ohne nachzudenken, kämpfte sie sich mit ihren Dreifußstöcken auf die Tanzfläche,
wiegte ihren Körper, wurde eins mit der Musik.
Das Gewisper der Umstehenden schwoll zum höhnischen Gelächter.
Niemand tanzte mehr, alle stierten auf die halbgebeugte Gestalt, die schwerfällig den Körper hin und her bewegte.
Sie öffnete die Augen und blickte in den großen gegenüberliegenden Spiegel.
Dort sah sie eine gelähmte, auf zwei Krücken schwankende Menschengestalt auf leerer Tanzfläche.
Und zum ersten Mal liebte sie sich selbst, denn sie fühlte, wie mutig, stark und schön sie war.





Christiane Schwarze

Geb. 1960 / lebt in Homberg (Ohm) / ehem. Logopädin in eigener Praxis, jetzt freie Schriftstellerin / Mitglied im VS und der Schreibwerkstatt Marburg / zahlreiche Literaturpreise / internationale Künstlerstipendien (Deutschland, Frankreich, Schweden, Schweiz, Spanien) / zahlreiche Lesungen im In- und Ausland / sieben Bücher, davon drei zusätzlich in Brailleschrift und zwei als Hörbuchversionen für Blinde / fünf musikalisch-literarisch inszenierte Hörbücher (mit ihrem Duo TonSatz) / über 300 Einzelveröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Anthologien und Kunstprojekten (Deutschland, Österreich, Schweiz, Dänemark, Spanien) / www.christiane-schwarze.de

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: