Tina Brüggener für #kkl11 „Es kommt die Zeit“
Müll
„Nimmst du den Müll mit?“, rufst du. Und ich weiß, dass es dir nicht um den Müll geht, der noch gar nicht richtig voll ist, sondern darum, dass ich mich generell mehr einbringe. Ich versuche, so zu tun, als hätte ich dich nicht gehört, meistens klappt das, heute nicht.
„Hast du mich gehört?“, fragst du, und diese Frage klingt nicht, als wäre sie ergebnisoffen.
„Mach ich“, sage ich, damit nicht weitere Fragen folgen. Ich greife nach dem halbgefüllten Müllsack, stelle ihn an die Tür, um zu zeigen, dass ich es ernst meine, zumindest mit dem Müll und in diesem Moment.
Aber es funktioniert nicht lang, das weiß ich, deswegen bin ich immer ein bisschen in Deckungsstellung, weil bestimmt gleich noch was kommt.
Ich ziehe die Schuhe an, übertrieben schnell, und bin schon fast raus, als du fragst: „Was ist das eigentlich mit uns?“ Deine Augen warten auf eine Erklärung, dabei halte ich doch die Türklinke in der Hand und habe nicht eine einzige persönliche Sache in dieser Wohnung, außer der Zahnbürste vielleicht. Ihre Borsten stehen viel zu weit an den Seiten ab, weil ich zu fest aufdrücke, sagt die Zahnarzthelferin. Wenn sie das sagt, könnte ihre Aussage ein großer Vorwurf sein, aber ihre Augen sagen so etwas wie: Nicht so schlimm, ich zeige Ihnen nochmal, wie man sorgfältig Zahnschmelz reinigt und das Zahnfleisch dabei gleichzeitig nicht strapaziert.
„Ich drücke zu fest auf“, sage ich.
„Was?“ Du siehst ziemlich schön aus, wenn du wütend bist. Es ist fatal, dass ich das so sehe. Vermutlich provoziere ich große Fragen, die so schwer aufliegen, dass deine Wut schön ist. Sie zu betrachten gefällt mir, aber nur kurz. Wie ein Zootier, das man ansieht, und dann ist es auch wieder gut, weil ein Pinguin zwar interessant ist, aber man ihn nicht einen halben Tag lang anstarren will. Auch wegen des Pinguins, dessen Privatsphäre man unwillkürlich stört.
Ich hebe den Müllsack auf.
„Ich habe dich etwas gefragt“, sagst du.
„Ja, aber der Müll“, sage ich. „Der muss doch raus hier.“
Ich drücke dir einen Kuss auf die Stirn, wie ich es immer mache, und du lächelst kurz und schließt die Augen, weil du mich unmöglich findest oder Stirnküsse magst.
Ich ziehe die Tür zu und frage mich, ob dir klar ist, dass das der letzte Stirnkuss war.
Als ich im Büro stehe, merke ich, dass ich noch immer den Müllsack in der Hand halte. Ich habe kurz den Impuls, das Fenster zu öffnen und ihn auf die Straße zu werfen. Aber ich entscheide mich dagegen, weil das Umweltmist wär, und ich aus dem vierten Stock jemanden damit erschlagen könnte. Ich überlege, die Mülltüte in den Papierkorb unter dem Schreibtisch zu stopfen, von der Größe müsste es eigentlich passen, aber das zweifache „Nur Papier“-Schild schreckt mich ab, sodass ich sie schließlich in die Mitte des Raumes stelle, um sie nicht wieder zu vergessen.
Am späten Vormittag habe ich das Gefühl, dass der Müll gewachsen ist. Vielleicht hast du heimlich große Fragen eingetütet.
Als die Sekretärin reinkommt und genau die Unterlagen braucht, die noch nicht fertig sind, streiche ich ihr über den Arm, weil ich in einem Seminar gelernt habe, dass das Arbeitsbeziehungen stärke und das Gegenüber durch solche Gesten eher vertraue. „Ich weiß, es gehört nicht zu Ihren Aufgaben, aber könnten Sie wohl den Müll mitnehmen?“ Ich fasse ihr auf die Schulter und frage mich, wo Vertrauen aufhört und Penetranz beginnt, lasse das mit dem Anfassen wieder, sie nickt verstört, aber freundlich.
Als sie den Müllsack hochhebt, krümmt sich ihr graziler Körper. „Warum ist der so schwer?“
Tina Brüggener ist in Leipzig aufgewachsen. Seit 2012 arbeitet sie in Dresden als Pädagogin mit Kindern und Jugendlichen.
2019 erhält sie den 1. Preis des Kurzgeschichtenwettbewerbs „zeilen.lauf“ in Baden bei Wien. Ihre Geschichte „Nähe sammeln“ wird in der „Badener Zeitung“ und in einem Sammelband veröffentlicht.
2020 ist ihre Kurzgeschichte „Pasito a pasito“ für den PERGamenta Publikumspreis nominiert.
Sie verfasst Lyrik, Kurzgeschichten, Erzählungen für Kinder und schreibt derzeit an ihrem ersten Roman.