Paul Winterkind für #kkl12 „Dazwischen“
Null. Der Mensch ist tot
Die Nachricht über „den großen Verlust“, wie ihn die Experten und Analysten nannten, leuchtete am Morgen des 24. Februars 2020 um 11:00 Uhr in großen, roten Buchstaben auf all unseren mobilen Geräten auf. Wer sie in Umlauf brachte und wie ihm das gelang, wussten wir nicht, doch wir ahnten, dass kein Apostel, kein Paulus und auch kein Zarathustra, ja, kein Mensch mehr nötig war, um sie zu verkünden. Sie lautete:
0 0 0 0 – Der Mensch ist tot.
Wie bei allem, das unerwartet über mich hereinbrach, hielt ich mich auch dieses Mal zurück und wartete darauf, dass sich die Angelegenheit in irgendeiner Weise von selbst löste. Doch das geschah nicht. Die entstandene Stille und die Kindergesichter, die mich ratlos anschauten und eine Erklärung von mir, ihrem Lehrer, verlangten, signalisierten mir, dass ich reagieren musste. Also sagte ich, da ich es nicht besser wusste, zu ihnen: „Kinder, wir sprechen später darüber“, schaltete den Bildschirm ab und forderte sie auf, sich wieder ihrem Arbeitsblatt zuzuwenden. Den Rest der Stunde verbrachten wir in einer von Tuscheln und Kichern sowie von einem leisen, aber deutlichen Schluchzen begleiteten Spannung, die mich noch immer, beinahe mahnend, daran erinnert, dass all das kein Traum gewesen war.
Die Antworten und Erklärungsversuchen der Erwachsenen auf die Fragen ihrer Kinder fielen ähnlich ernüchternd und unbefriedigend aus, sie konnten es ja selbst kaum fassen, geschweige denn begreifen. Und so wunderte es niemanden, dass es die Kinder waren, die sich am meisten Sorgen machten und den Worten ihrer Eltern, die sich in Gutzureden, in Zurückweisung und Verharmlosung ihrer Fragen und Sorgen erschöpften, am meisten misstrauten. Die Kinder waren es, die am ratlosesten waren und dennoch mehr zu begriffen schienen von dem, was eben kaum zu begreifen war. Wir dagegen sprachen zwar viel, wenn die Kinder draußen spielten oder schon schliefen, aber begriffen hatten wir es deshalb noch lange nicht, auch wenn wir uns immer ausgefallenere Begriffe ausdachten und so einiges an Techniken entwickelten.
Manche von uns nahmen die Botschaft eigenartig unbesorgt auf, sie schienen sogar fast dankbar dafür zu sein, dass endlich einmal jemand klar aussprach, was alle bereits geahnt hatten. Der Tod ist da, der Tod ist da, hurra, hurra, der Tod ist da, hörte man sie auf den Straßen in heiterer Laune rufen. Befreit von den Leiden und Zwängen des Lebens, durften man endlich sein, wonach man so lange suchte – erlöst und frei, und so lachten sie über den Tod, weil er ihr Freund geworden war. Einige glaubten dabei sogar, dem vermutlich radikalsten und asozialsten Philosophen, Diogenes von Sinope, nahezustehen, da dieser es vorzog, in einem Fass zu wohnen, und dem Leben der Athener seinen bissigen Spott entgegenhielt. Im Unterschied zum Original jedoch entluden die modernen „Tonnenmenschen“, wie sie sich zuweilen nannten, ihren Hass meist aus warmen und wohlsituierten Behausungen in die digitale Außenwelt. Sie verhöhnten diejenigen, die noch immer auf der Seite des Lebens standen und bespuckten sie von ihren Balkonen, wenn sie weiterhin zur Arbeit fuhren oder mit ihren Familien zum Park oder ins Theater ausgingen. Verhalten, das von Lebendigkeit zeugte, war ihnen ein Dorn im Auge und ein Beweis dafür, dass man die Offenbarung ihrer frohen Botschaft nicht ernst nahm. Man hatte also alles Recht, die Lebenden ordentlich zu bespucken, sagten sie, denn der Mensch war tot und endlich frei.
Die vermutlich attraktivere, und möglicherweise auch erfolgreichere Strategie im Umgang mit der unbequemen Botschaft war jedoch, darüber einfach zu schweigen, und so zu tun, als wäre nichts geschehen oder zumindest, als wäre es von keiner nennenswerten Relevanz. Man stürzte sich ins also ins sogenannte Leben, schnippelte frisches Gemüse, aß Avocados und Lachs in Leinsamenöl, ging außerordentlichen Sportarten nach und praktizierte allerlei ausgefallene Yoga-, Pilates- und Sexstellungen, so als wolle man sich beweisen, wie lebendig man doch noch war. Der Mensch ist tot? So what? Es lebe der Mensch (und vielleicht jetzt erst recht)!
Für diese, später als „Vitalismus“ bekannt gewordene Gesinnung, bestand das, was man unter Lebendigkeit fasste, vor allem aus einer gesunden Ernährung und Lebensführung, aus der Pflege sozialer Kontakte und der Ansammlung tiefgehender Erfahrungen, die man sich durch die Konfrontation mit eigenen und fremden Empfindungen zu erwerben versprach. Zum Mittelpunkt des allgemeinen Interesses wurden Fragen nach dem Umgang mit der Vielfalt äußerer Reize und ihrer Wirkung auf das innere Empfinden, bei dem es nach der Meinung einiger Experten für die Gesundheit förderlich sei, die vielfältigen Reize zu bejahen und zu umarmen, während andere Experten empfohlen, achtsam mit seiner Umgebung umzugehen, oder, wie es in der „Zeitschrift für ein gutes Leben“ hieß, mit den äußeren Reizen in eine „wechselseitige Resonanzbeziehung“ zu treten. Der Mensch lebte, und das spürte man, wenn man gesund war und mit sich und seiner Umwelt eine gesunde Beziehung pflegte. „Festhalten und loslassen“, laute das Prinzip des Lebens, sagten sie, ohne jedoch zu wissen, wer oder was ihnen diesen Halt versprach.
Unter den Vitalisten befanden sich auch einige Hedonisten, die, da sie die Nachricht vom Tod des Menschen am besten begriffen, sie auch meisten verachteten. Die Hedos, wie sie zuweilen genannt wurden, leugneten den Tod des Menschen und wollten ihn nicht gelten lassen. Stattdessen priesen sie das Leben in seiner Gesamtheit und Vielfalt. Sie kitzelten alle verfügbaren Lebensenergien auch sich heraus, indem sie etwa an sogenannten Kuschelpartys teilnahmen und ihre warmen Körper wild aneinanderrieben, um damit so etwas wie einen energetischen Funken zu erzeugen, der ihnen ihre Lust und Lebenskraft vor Augen führte. Jegliche Form des Asketentums und des Verzichts hassend, schlugen sie gewaltvoll auf die Trommeln des Lebens und erschufen damit einen alles überlagernden, babylonischen Lärm, der der Lebendigkeit frönen und den Tod für immer besiegen sollte. Der Mensch lebte, denn er war laut und voller Energie, sagten sie, und bemerkten gar nicht, dass das Feuer in ihnen schon längst erloschen war.
Da mit dem Tod des Menschen auch die Vorstellung von der Einzigartigkeit des Menschen bedroht war, versuchte man sich nun umso mehr davon zu überzeugen, dass man anders und also auch besonders war. Interessanterweise gewann damit auch die Gemeinschaft wieder mehr an Bedeutung. Authentizität und Selbsterfahrung waren die Stichworte und der Austausch in der Gruppe hatte stets die Erfahrung des eigenen, inneren und „wahren Selbsts“ zum Ziel, das es zu erkunden, zu heilen oder gar zu perfektionieren galt. Man schuf gemeinschaftliche Resonanzräume, in denen man mithilfe von Persönlichkeitstrainern, Mental-Health-Coaches und Body-und-Mind-Experten die verborgenen Potentiale und Kräfte auszuloten beabsichtigte, um das eigene Dasein zu erforschen und zu seiner vollen Entfaltung zu bringen. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Teilnehmenden solcher Seminare neben der Entfaltung ihrer inneren, energetischen Kräfte auch von Erlebnissen der kollektiven Ekstase und Gefühlen der totalen Lebendigkeit berichteten. Einige machten vergleichbare Selbst- und Fremderfahrungen aber auch im spielerischen Umgang mit multiplen Identitäten, die sie auf Diverse-Identity- und Drag-Partys zur Schau stellten und gemeinsam darüber reflektierten, wie eine innere Empfindung einen äußeren Ausdruck fand. Die emotionale Teilhabe an den Befindlichkeiten der Anderen ersetzte dabei allmählich den Konsum von Film und Fernsehen, die ihre gesellschaftliche Rolle in der Funktion als emotionales Gegenüber schon längst eingebüßt hatten, und niemanden mehr zu unterhalten oder gar zu trösten vermochten. „Besser als Fernsehen“, sagten die Teilnehmenden der zumeist kostenpflichtigen Veranstaltungen, und vergaßen bald, dass auch sie bloß immer nur ein Abbild ihrer selbst waren.
Auch ein erfülltes, gesundes und langes Leben ist ein endliches Leben. Es erstaunte also nicht, dass einige das Schauspiel nicht mehr abnahmen, das die vitalistischen Figuren auf den bunten Bühnen boten – es war ihnen nicht mehr „radikal“ genug. Zwar liebten auch sie das Leben (und vermutlich umso mehr), aber sie konnten nicht akzeptieren, dass der Tod es ihnen ohne ihr Einverständnis bereits genommen haben sollte. Sie glaubten sich betrogen und unter seiner Kontrolle, und deshalb taten sie alles, um im Gegenzug die Kontrolle über ihn zu gewinnen. Der Tod ist nicht zu akzeptieren, er muss überwunden werden, sagten sie, auch wenn sie begriffen, dass mit der Überwindung des Todes auch der Mensch, der tot war, überwunden werden musste. Den Tod zu überwinden hieß, den Menschen zu überwinden, und so begannen sie damit, ihre toten Körper in sowohl schwarze als auch bunte Gewänder zu kleiden, die das Zeitalter der Vernichtung und des Neubeginns ankündigten, aus dem sie sich gestärkt und irgendwie anders hervorzugehen glaubten. Im Übergang begriffen und zu Höherem bestimmt, war ihnen alles Zerstörung, Möglichkeit und Chance – ein unendlicher Entwurf, dessen geheimer Plan und Absicht vermutlich deshalb einen solchen Reiz auf sie ausübte, weil niemand so recht sagen konnte, worin dieser Plan eigentlich genau bestand, auch wenn alle daran mitarbeiteten und ihn mit einer seltsam zur Schau gestellten Sicherheit in eine unbekannte, aber gewiss bessere Zukunft vorantrieben. Was tot war, war tot, abgeschlossen, und deshalb Stückwerk und Hoffnung für das, was noch nicht war, für das, von dem man nur noch nicht wusste, wie – und zu welchem Zweck? – es neu zusammenzusetzen wäre, notwendiges, nützliches und schönes Stückwerk für das, was nicht mehr nur nicht mehr lebendig, sondern auch nicht mehr tot sein würde, was auch immer das bedeutete . . .

Paul Winterkind
Am 13.09.1988 in Bad Ems in die Welt geworfen, verbrachte ich meine Kindheit und Jugend in meinem Heimatdorf Hübingen im Westerwald. Im Jahr 2009 begab ich mich für ein Studium der Germanistik und Philosophie nach Mainz, das ich, nach Auslandsaufenthalten in Wien und Ankara, 2019 mit einem Masterabschluss beendete. Nach einer mehrjährigen Tätigkeit als Deutschlehrer in Integrationskursen verdiene ich derzeit mein Geld mit der Unterrichtung von Kindern an einer Grundschule in Berlin, wo ich seit Sommer 2018 lebe und schreibe.