Daniel Mylow für #kkl12 „Dazwischen“
Die Zeit die uns bleibt
Das Mädchen auf der anderen Straßenseite verlor den Halt. Sie rutschte, mit den Händen ins Leere greifend, vom Fenstersims in die Tiefe. Einen Augenblick lang dachte Elinor daran ihr nachzuspringen.
Aber dieser Gedanke tauchte erst viel später in ihm auf, als er bereits unten auf der Straße stand. Panisch irrten seine Blicke über die Häuserzeilen. Die lange Reihe parkender Autos versperrte ihm die Sicht. Er rannte über die Straße. Abrupt blieb er stehen. Auf einem an einer Hauswand aufgeschichteten Stapel alter Matratzen lag ein Mädchen. Wenn es einen Blick in ihren blinden Augen gab, dann schien er in den grauen Novemberhimmel gerichtet, vielleicht auch auf das Dach, auf dem Elinor gerade eben noch gestanden hatte.
„Hilfst du mir?“
Sie schien ihn bemerkt zu haben. Elinor griff nach ihrer in die Luft gestreckten Hand und zog sie empor. Sie lächelte.
„Ich hatte wohl mal wieder keine Geduld.“
Für einen Augenblick berührten sich ihre Gesichter.
Als er achtundvierzig Stunden später in einer kleinen Pension an der belgischen Grenze die Augen aufschlug, schien es, als ob die Zeit das wenige an das er sich erinnerte ausgelöscht hätte. Er war ohne Gedächtnis. Das Mädchen hatte seine Arme um ihn gelegt. Elinor schloss die Augen. Auf diese Weise konnte er für Augenblicke sein wie sie. Er spürte die Schatten rundherum. Wie sie es gesagt hatte. Und dass man nicht schläft. Sobald einem die Augen zufielen, spürte man das Licht wie ein Geheimnis. Man versank darin, genau wie sie es gesagt hatte. Auf der Zunge schwebten die Gerüche, die Töne, die Gedanken. Einfach alles. Man war wie ein Raum, den das Licht durchflutete. Elinor sah das Mädchen an. Nur wenn er sie ansah, erinnerte er sich. Flüchtig, so wie man in einer Spiegelscherbe für kurze Zeit seine Umgebung aufleuchten sieht. Da war plötzlich so ein Gefühl in seinem Bauch. Er hatte sich immer einen Freund gewünscht. Sein ganzes Leben lang. Die zwei Tage, die er mit dem Mädchen unterwegs war, hatten alles verändert. Wohin wollte sie doch gleich? Hatte sie ihm nicht erzählt, dass ihr Vater, den sie nie gesehen hatte, im Sterben lag? Als ihre Mutter sie anrief, um ihr das zu sagen, hatte sie keinen Augenblick gezögert. Erzählte sie. Jetzt war sie zu ihm unterwegs.
An dem Morgen, an dem er ihr begegnet war, wollte er sie noch zur Bahn bringen. Aber was war vorher geschehen? Er versuchte sich auf ihr Gesicht zu konzentrieren.
Ein Haus. Ja, die Nischen des Treppenhauses waren dunkler als sonst, das Licht auf den Stufen gebrochen scharf. Er durfte nicht anhalten. Weiter, nur weiter, dachte er. Er stieß die Dachluke auf. Im Himmel spiegelten sich farblose Wolken. Darunter sahen die Dächer der Stadt aus wie graue Muscheln, die unter einem unsichtbaren Wellenschlag zitterten. Er atmete schwer. Die Regungen des Windes und der lautlose Flug einer Krähe waren die einzigen Spuren des Morgens. Hier oben verschwanden für Augenblicke alle seine Sorgen. Er fühlte sich seinen Eltern nah, die vor einigen Jahren bei einem Verkehrsunfall gestorben waren. Hier oben war die Einsamkeit auszuhalten. Ein paar glückliche Momente lang, bevor seine Tante ihn zu vermissen begann und nach ihm rufen würde.
Plötzlich, in einem einzigen Augenblick, veränderte sich alles. Es war, als ob der stille Stand der Dinge mit dem Licht zwischen den Häuserschluchten verschwand. Alles geriet in Bewegung. Und dann hatte er das Mädchen auf der anderen Straßenseite gesehen.
Sie warteten am Flussufer gemeinsam auf die Bahn. Ein Vogel tauchte ins Wasser. Stimmen stiegen wie ihr Atem unsichtbar empor. Das erzählte sie ihm.
„Das Leben ist langsam, wenn du den Atem anhältst“, sagte sie. Ihre Stimme war leise. Seine Hand lag auf ihrem Arm. Er wusste, dass er nicht mehr so tun konnte, als wüsste er den Weg. Da war so ein Gefühl in ihrer Nähe, als ob ihre Finger seine Erinnerung durchblätterten. Und ihm wurde klar, dass er in den ganzen dreizehn Jahren, die sein Leben kannte, noch nie einen richtigen Freund gehabt hatte. Vielleicht fiel es ihm deshalb so schwer, sich an vergangene Dinge zu erinnern. Es schien viel leichter, wenn man sich dabei an einen Menschen, den man mochte, erinnern konnte.
Ohne noch etwas zu sagen, fuhr er einfach mit.
„Hörst du den Wind? Es hört sich anders an, wenn man näher ans Meer kommt.“
„Ja“, sagte er.
Elenior sah aus dem Fenster des Pensionszimmers. Darauf hatte er noch nie geachtet. Es war, als ob er in den zwei Tagen, die sie jetzt mit der Bahn, per Anhalter oder zu Fuß unterwegs waren, erst sehen gelernt hatte. Das Mädchen hatte ihn den Regen auf seiner Haut spüren lassen, den Geschmack von Dingen, die man ihn den Mund nahm ohne, dass man sie sah. Sie hatte ihn fühlen lassen wie der Wind schmeckte. Wie sich das verdorrte Novembergras zwischen den Fingern anfühlte. Sie hatte ihn gelehrt, dem Sprechen der Stille zu lauschen und die kühle Luft hinter dem Fenster des Zugabteils zu atmen. Einen solchen Freund hatte er sich immer gewünscht. Das Mädchen war in dieser Welt, die sie nicht sehen konnte, mehr zu Hause als er es je gewesen war.
Ein Lastwagen brachte sie fast bis zur Küste. Von der Landstraße aus folgten sie der Eisenbahntrasse ins nächste Dorf. Es war möglich, dass dort irgendwo in diesen Augenblicken der Vater des Mädchens starb. Die Dunkelheit lag bereits wie ein großer Körper über der Ebene ausgestreckt. Ihnen blieb nur noch eine kleine Flügelspanne Zeit, so schien es Elenior. Ein feiner Regen legte sich auf ihre Haut.
Zwischen Nacht und Tag gibt es einen Spalt, hatte das Mädchen ihm erzählt. Einen Spalt, durch den man fliehen kann, bevor die Dinge ein böses Ende nehmen. „Noch ist es Zeit“, hatte sie gesagt. „Du musst ihn nur rechtzeitig sehen, nur einen winzigen Augenblick lang. Und dann musst du mich an die Hand nehmen und einfach springen.“
Daran musste er denken, während sie immer weiterliefen. Er legte seine Hand in ihre. Es war ein Gefühl, dass alle seine Vorstellungen überstieg. Ein leiser Takt begleitete ihre Schritte, wie eine Sanduhr, die in allen Dingen summt. So als könnte man für einen Augenblick die Zeit selbst hören.
Daniel Mylow 1964 geb. in Stuttgart, Aufenthalte in Düsseldorf, Hannover, Berlin, Krefeld. Studium in Bonn und Marburg. Ausbildung in Kassel. Oberstufenlehrer in Hof und Wernstein, Marburg, Mainz, seit 2018 an der Freien Waldorfschule in Überlingen/Bodensee. Poesiepädagoge und Dozent für Literatur.
Letzte Publikation: Rotes Moor (Poetischer Thriller), Cocon Verlag Hanau 2017. Greisenkind (Roman) net Verlag Chemnitz 2020.
Zahlreiche Publikationen in Anthologien und Literaturzeitschriften. Diverse Auszeichnungen, zuletzt Kempener Literaturpreis 2017, Preis der Sparkassenstiftung Groß Gerau 2017, Merck-Stipendiat der Stadt Darmstadt 2018