Katharina Stein für #kkl12 „Dazwischen“
Strg – Alt – Entf
Er surft auf den Wellen des Webs. Suchanfragen schlagen über ihm zusammen, schäumen auf ihn herab, doch er hält sich auf dem Brett, bleibt on topund wird mit Klicks belohnt.
»Neues Video!«, und er schreit in die Kamera, weil die alte Regel gilt, wie bei den Marktschreiern, von denen er eigentlich nicht mehr weiß als was ihr Name sagt: Wer am lautesten ist, wird am besten gehört. Er übertönt alle anderen.
Er hat sich eine Maske gekauft, in einem stillen, schwachen Moment, aber niemand weiß davon. Er ist der Star dieser kurzlebigen Welt und muss noch kurzlebiger sein – schnellere Schnitte, häufigere Tweets, persönlichere Fotos auf Instagram, morgens bis abends Reels. Nicht nur die geplanten, produzierten, sondern alles, was um ihn herum geschieht. Vielleicht wird seine Haut bald aus Glas bestehen; sicher fancy für die neuen Bilder.
Er leitet den Strom, den Stream, den Stream of Conciousness. Er zeigt den Menschen, was gut ist, und wandert mit ihnen von einem Klick zum Nächsten. Er begleitet sie durch den Tag – bald auch mit Offline-Produkten, schon längst mit Merch. Auch wer ganz andere Dinge sucht, findet ihn.
Das Fernsehen hat ihn eingeladen, doch er hat abgelehnt. Was will er mit so einer Sendung, die auch in 2 Wochen noch aktuell aussehen soll, wenn er seinen Feed schon längst getauscht hat, wenn das nächste Game, die nächste Challenge, der nächste Anglizismus im Fokus stehen? Er kann seine Viewer nicht enttäuschen, indem er auf die Bremse tritt. Das sagt er und fragt sich, ob er nicht einfach nur vergessen hat, eine Bremse einzubauen.
Er kann den Strand nicht mehr sehen, reitet auf den Wellenkämmen und blickt in die Ferne, ob nicht doch irgendwo Land in Sicht ist. Das Möwenkreischen kommt von irgendeinem Tab, der irgendwo noch offen ist, weil es immer noch nicht alle gelernt haben: Auf eine Website gehört kein Autoplay. Er will nicht suchen, also schwebt sein Cursor über dem großen roten Kreuz. Eine Sammlung, über 200 Seiten, die er selbst schon längst vergessen hat, wären unwiderruflich verloren. Er bricht die Mission ab, lässt die Maus weiter wandern. Wer weiß, was er sonst Lebenswichtiges verpasst? Wer weiß, was er sonst Lebenswichtiges vergisst? Das kann er sich nicht leisten. Nicht, solange er noch der große Star ist – und wer weiß schon, wie lange das hält?
Seit Kurzem hat er ein Team – Kamera und Schnitt, Fotos, Social Media Management. Jetzt macht er sich nicht mehr selbst an Körper und Seele vor der Kamera nackt, jetzt ziehen ihn andere aus. Eigentlich ein Schritt nach vorn, nur fühlt es sich jetzt irgendwie mehr nach Porno an. Für wen tut er das eigentlich, für wen macht er Content, Content, Content (geplärrt wie ein Marktschreier in lange vergangenen Zeiten)?
Das sind die falschen Fragen. Ein Surfer muss im Moment leben, sonst ist er drei Updates, drei Scrolls später vergessen. Also macht er weiter, lässt Hülle um Hülle fallen.
Die Menschen schauen ihm zu, als er nackt ist, schauen ihm zu, als der die Haut abstreift, das Muskelgewebe, Organe und Knochen. Als nur noch seine Seele übrig ist, schauen sie nicht mehr hin. Da gibt es schließlich nichts zu sehen – nur ein paar Lens Flares, die auch von der Sonne kommen könnten.

Katharina Stein schreibt Kurzgeschichten, Lyrik und alles, was irgendwo dazwischen liegt. Im September 2021 erschien ihr Kurzgeschichtenband Berlin – Eine Stadt in 17 Begegnungen. Außerdem sind mehrere Texte von ihr in Literaturmagazinen und Anthologien erschienen. Sie arbeitet freiberuflich als Lektorin, Korrektorin und Übersetzerin. Online findet man sie auf www.lorem-ipsa.de oder auf Instagram als @lorem.ipsa.

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