Raven E. Dietzel für #kkl13 „Über den Tellerrand“
Abstieg
Am Bahnhof führen viele Treppen,
manche steinern, manche rollend
auf und ab die vielen Steige,
wo das Leben Richtung nimmt.
Eine Ordnung über allem,
der die Meisten blind vertrauen.
Haben schon genug zu tun,
der Verbindung angemessen
ihren Weg zu finden und dazwischen
am Kiosk in der Unterführung
Ablenkung zu zahlen um danach
rechtzeitig wieder oben sein
um einsteigen zu können
und dann abzufahren.
Der Grund für alle ist der Gleiche:
Weiterkommen. Doch wohin –
der Sinn dahinter ist verschieden,
bunt und voller Abwechslung,
wie die Züge auf den Gleisen
fast wie Spielzeugwagen stehen.
Selten nur ein Zwischenfall
in den paar Minuten warten,
selten länger, selten Stunden,
doch auch das kommt manchmal vor.
Für den Blick im Über-
wachunsgraum gibt es dagegen
niemals Einzelfälle,
alles schonmal dagewesen.
Auch die Sprünge dummer junger
Leute hin ins Gleisbett,
weil da eine Münze liegt.
Gehört genau so sehr dazu,
wie das Herz des Greises, das
auf Bahnsteig Nummer vier
die Eile nicht mehr packt.
In jedem Fall ein Knopf, ein Anruf,
und das Richtige geschieht,
alles geht so seinen Gang,
und auf eine oder andre
Weise wird der Störenfried verschwinden.
Doch dann gibt es noch die andren,
die sich aus dem Kam’rawinkel
nie sehr lang vertreiben lassen.
Die Zeit, in der sie Züge nahmen,
ist inzwischen lange her,
heute sagen sie das nur noch,
um von eilenden Passanten
eine lächerlich so kleine Menge
Geld aus ihren Portemonnaies
in den Pappbecher zu quatschen.
Irgendwann stiegen auch sie
zwischen Schnellzügen und Bahnen
zwischen Städten der Region
ein und aus und um und warteten
darauf oder liefen hinterher.
Jede dieser abgerissenen Gestalten
hätte, wenn sie einer früge,
eine ganze Reihe Bahnhöfe
und Zwischenhalte zu erzählen,
doch ist keiner, der sie fragt.
Denn wer nicht das Spiel von Ein-
und Aussteigen mehr spielen kann,
ist für Reisende beliebig,
wie das Bahnhofsmobiliar.
Und nachts, wenn keine Züge fahren
und es nichts zu kaufen gibt,
liegen sie nicht auf den Bänken,
die wer extra so designte,
dass man da nicht liegen kann.
Außerhalb des Hauptgebäudes
unter einem Baugerüst
und auch in der Unterführung
zwischen Zeitungen und Flaschen,
in einem geflickten Schlafsack
– der nur, wenn sie glücklich sind –
oder auf dem blanken Boden
liegen ehmals angestellte
Lehrer, Krankenschwestern und Monteure,
niemals ausgelernte Fräser,
arbeitslose Soziologen,
optimistisch Eingewanderte
und Schulabbrecher
deren Schlaf nicht tief genug
zum Träumen ist. Bloß tief genug,
dass nach wirklich kalten Nächten
wieder einer nicht mehr lebt.
Davon liest man in der Zeitung,
oder auch, dass manche Leute
den Kanister mit Benzin
auf den ganzen Lumpenhaufen,
– in den Lumpen liegt ein Mensch –
ausschütten und Feuer legen.
Und der Mensch brennt lichterloh.
Raven E. Dietzel (*1995 in Lippe, wohnhaft in Erfurt) schreibt Lyrik und Prosa diverser Gattungen und Genres. Hat Philosophie, Germanistik und Linguistik in Bielefeld studiert und arbeitet gegenwärtig als Teaching Assistent in der Philosophie und als Stadtführerin in Erfurt. Seit 2013 rund dreißig literarische Veröffentlichungen in Anthologien. 2020 Trägerin des Jurypreises der Literaturwerkstatt des Fritz-Hüser-Instituts Dortmund. In ihren Texten, die der Lebensrealität eines jungen Menschen entstammen, ist das häufige Leitmotiv die psychische Abgespaltenheit des Individuums von der eigendynamischen Gesellschaft. Mehr unter redietzel.de
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