SÜDSEE, BRANDENBURG

Hanni Roman für #kkl13 „Über den Tellerrand“




SÜDSEE, BRANDENBURG


„Vince, kommst du endlich?“, rief Stephan mit dem Kopf über der Schulter nach hinten.
Vincent saß auf einem Kinderrad wie ein Riese. Am Gepäckträger befestigt war ein Plastikstab mit einem weißen Fähnchen und der Eiskönigin von »Frozen« darauf. Vince trat in die Pedale als würde es um alles gehen. Vor gut einer Stunde waren sie aufgebrochen, Stephan und er. Ihr Ziel: der nächstgelegene See. Während Stephans High-Tech-Fahrrad super fuhr, hatte Vincent das rosa Kinderrad von Liesl, der acht-jährigen Schwester seines Freundes, nehmen müssen. Wie peinlich! Der einzige Grund, warum Vince sich darauf eingelassen hatte, war, dass er wusste, im öden Brandenburg würde eh kein einziges Auto vorbei kommen. Niemand würde ihn sehen, auf Liesls Rad mit der Eiskönigin. „Spätestens an der nächsten Kurve hab ich dich eingeholt. Du wirst schon sehen“, rief Vincent, seine Beine traten nun so schnell als wären sie motorbetrieben. “Eh nicht!“, lachte Stephan und bog nur wenige Sekunden später von der Straße ab auf einen sandigen Feldweg. Sein Hinterrad rutschte spektakulär zur Seite, der Sand flog mindestens einen Meter weiter. Fast kam er zum Stehen, doch dann gab er kräftig Gas und kämpfte sich samt Rad auf dem Weg ab. Vorbei an Rapsfeld links und Birkenwald rechts. „Natürlich“, murmelte Vincent, bremste mit lautem Quietschen und riss den Lenker herum. Stephan mochte es nur zu gerne, ihm zu zeigen wie cool er war, weil er diese gottverlassene Gegend so viel besser kannte. Klar, er lebte immerhin schon sein ganzes junges Leben lang hier, während Vincent erst vor einigen Wochen aus München nach Schmiecheln gezogen war. Was war das überhaupt für ein Ortsname? Schmiecheln.

Gedanklich sprach Vincent den Namen immer wieder. Es wurde nicht besser. Der Trubel der Metropole fehlte ihm gewaltig und der Kontrast hätte nicht größer sein können. Zwar lebte er nun mit seinem Vater in einem Haus, statt in einer 1-Raum-Wohnung in München Pasing. Aber das Dorf hier auf dem Land hatte keinen einzigen Eisladen. Keinen Mediamarkt. Keine Pokémon-Go-Arena. Nicht einmal Berge. „Wir haben aber die Südsee“, hatte ihn Stephan gelockt. „Das schönste Meer, das du dir vorstellen kannst“, hatte er gesagt. Und so waren sie aufgebrochen. Mit dem Rad ans Meer und zurück an einem Tag. Die Sonne brannte am wolkenlosen Himmel und Vincent rann der Schweiß über den hochroten Kopf. Auch er strampelte sich nun über den sandigen Weg, bis Stephan ein weiteres Mal abbog. Vincent gab sein Bestes und vielleicht mit dem guten Willen der Eiskönigin, vielleicht auch nur Kraft seiner bayrisch-strammen Waden, schaffte er es, seinen Freund einzuholen. „Wie weit ist es denn noch?“ Vincents Stimme klang geschaffter als gewollt. „Wirst schon sehen. Mach jetzt bloß nicht schlapp“, erwiderte Stephan und trat noch kräftiger in die Pedalen. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie einen geteerten Radweg entlang eines trüben Tümpels. Das dichte Schilf bedeckte das Ufer soweit das Auge reichte. Und fast machte sich eine Enttäuschung bei Vincent breit. Das hier sah anders aus als die klaren, tiefblauen Bergseen, die er aus seiner Heimat gewöhnt war. „Nur noch kurz“, versprach Stephan und tatsächlich kam er wenige Minuten später zum Stehen: „Tadaaaa!“ Vincent stieg vom rosa Rad und legte es sanft auf dem Boden ab. Für einige Meter war das Schilf unterbrochen und gab eine Art Einstieg frei. Der grobe Sand war dunkel und voller kleiner Äste.

Er beobachtete seinen Kumpel, der sich wortlos seine Schuhe und Socken auszog und an das graue Ufer trat. Zufrieden breitete Stephan seine Arme aus, als würde er die ganze Welt vor Glück umarmen wollen. Vincent runzelte die Stirn. Wirklich? Das war die Südsee, das wunderbare Meer, das ihm versprochen wurde? Eine Amsel flatterte unter aufgeregtem Geschrei von rechts nach links. Einige Enten lugten neugierig aus dem Schilf an der Seite. Ein Windstoß ließ die Birkenwipfel tanzen. Dann Stille. Stephan drehte sich mit erwartungsvollem Blick zu Vincent um und kam ein paar Schritte auf ihn zu: „Und? Was sagst du?“ Lieber nichts, dachte der wiederum still bei sich und wusste gar nicht so richtig wohin mit seiner enttäuschten Erwartung. Letzten Sommer war er mit seinem Vater in Italien an der Adria gewesen. Das hatte er beeindruckend gefunden. Tosende Wellen, türkisblaues Wasser, heller feiner Sand. Das war für ihn Meer gewesen. Aber dieser dreckige Teich sollte doch wohl eher ein Scherz sein! Er schaute Stephan tief in die Augen, aber er fand kein bisschen Schabernack darin. Im Gegenteil. Sein. Voller. Ernst. „Ach, sag bloß, du hast deinen Meerblick im Dorf vergessen“, empörte sich Stephan. “Mein was?“ „Na deinen Meerblick! Aber das ist kein Problem. Als Reiseführer bin ich natürlich auch auf die vergesslichsten Touristen eingestellt.“ Er fummelte an der Hosentasche seiner Badehose herum, und zog mit einer Hand ganz behutsam etwas daraus. Nur war da nichts. Als hätte Stephan ein rohes Ei hervorgezaubert, griff er das Nichts mit größter Sorgfalt an beiden Seiten und tat so, als würde er Vincent eine Brille aufsetzen. Eine Unsichtbare, ganz offensichtlich. Zufrieden musterte er seinen Freund und sagte: „Und nun schau noch einmal. Ist es nicht ganz wunderbar hier?“ Vince, immer noch nicht sicher, was das alles sollte, fragte vorsichtig nach. „Was genau sehe ich hier?“ Stephan sprach mit tiefer Stimme, die wohl seiner Rolle als Reiseführer gerecht werden sollte: „Sie sehen hier …Tja, schöner als in ihren Träumen bietet sich Ihnen der Anblick der Südsee. Lassen Sie sich von der Sonne küssen, aber bitte nicht verbrennen. Kommen Sie zunächst einmal mit mir in den Schatten dieser Palmen. Mit ein wenig Glück fällt auch eine überreife Kokosnuss herunter. Die ist dann natürlich im Preis inklusive.“ Mit zwei Schritten war Stephan an der nächsten Birke und lehnte sich lässig dagegen. In leichter Schräglage schlug er das rechte Bein über das Linke und verlor fast den Halt. Vincent kicherte ein wenig verunsichert. „Ziehen Sie Ihre Schuhe aus und lassen Sie den feinen goldenen Sand Ihre Zehen kitzeln. Heute ist ein guter Tag. Trotz leichter Brise fast kein Wellengang. Sie können unbeschwert in das türkisfarbene Wasser springen und falls Sie den Schnorchel-Kurs mit gebucht haben, werden sie die Vielfalt der Unterwasserwelt mit eigenen Augen entdecken.“ Vincent seufzte. Es bestand definitiv die Gefahr, dass sein Freund ein bisschen verrückt gegangen war. Und trotzdem wollte er es wenigstens versuchen. Er streifte sich die Schuhe von den Füßen und schloss die Augen. Der Sand fühlte sich tatsächlich viel feiner an, als er auf den ersten Blick ausgesehen hatte. Er ließ sich auf den Boden fallen und strich mit den Händen den Sand glatt. War das eine Muschel in seiner Hand? Vincent traute sich nicht, die Augen zu öffnen und so befühlte er die Muschel ohne sie anzusehen. Außen geriffelt, innen ganz weich. Er hörte seinen Atem, wie er immer ruhiger wurde. Jedes Einatmen wurde gefolgt von einem Ausatmen. Oder war es doch das Geräusch der Wellen? Mit geschlossenen Augen stand er vorsichtig auf, die Muschel immer noch in der Hand, und lief geradewegs auf das Wasser zu. Auf einmal spürte er Stephans Schulter an seiner. „Komm, lass uns schwimmen.“ Der Reisebegleiter schien vergessen. Stephans Stimme war wieder normal. Er griff Vincents Hand samt Muschel und kurz darauf berührten seine Füße das kühle Wasser der Südsee. Noch einige Schritte mehr. Dann, mit einem Satz, sprang Stephan in die Südsee und zog Vince mit sich. Als der vor Schreck seine Augen öffnete, konnte er mit einem Mal erkennen, was ihm vorher verborgen gewesen war. Das Wasser war klar und Vince konnte bis zum Boden schauen. Überall lagen Muscheln, kleine wie große. Eine gewaltige Schildkröte schwamm an ihm vorbei und ein Schwarm blauer Fische näherte sich. Einige der Fische zwickten ihn am großen Zeh und in der Kniekehle. Aber das war nicht weiter unangenehm. Mit großen Schwimmzügen tauchten die beiden Jungen weiter weg vom Strand und entdeckten zunächst einen großen Stein mit allerlei Algen darauf. Als sie um den Stein herum schwammen, schreckte ein Oktopus auf und hinterließ eine Tintenwolke. Dann war er nicht mehr zu sehen. Vince schaute mit großen Augen zu Stephan herüber. Der wiederum fuchtelte mit den Händen immer wieder in eine Richtung. Und so folgten sie Stephans Handbewegungen und fanden auf dem Grund des Meeres einen Mantarochen, so groß wie die beiden Jungen zusammen. Der Rochen glitt ruhig über den feinen Sand und wedelte kaum merklich einige Sandkörner auf. Vincent musste feststellen, dass ihm langsam die Luft knapp wurde. Er deutete in Richtung Himmel und stieß sich vom Boden ab. Als er auftauchte, war Stephan bereits neben ihm. „Mega, oder nicht?“, fragte der atemlos. „Mega!“, gab Vince zurück, „Fehlen nur noch …“ und da traute er seinen Augen kaum. “Delfine!“, rief Stephan als er zwei silbergraue Tümmler auf sie zukommen sah. Sie sprangen in hohem Bogen aus dem Wasser, nur um dann kurz vor den Jungen unterzutauchen und durch ihre Beine zu schwimmen. Vince und Stephan klatschten erstaunt Beifall und pfiffen laut. Die Delfine wiederholten ihren Sprung-und-Tauch-Trick noch einige Male, bis sie schließlich zwischen den Beinen der Jungen innehielten und gegen die Oberschenkel stupsten. „Sie nehmen uns Huckepack!“, schrie Vincent euphorisch und schon sprangen und glitten die Vier gemeinsam durch das wundersame Meer.

Einige Zeit später plumpsten die Jungen ganz erschöpft von den Delfinrücken und ließen sich nach und nach an den goldenen Sandstrand spülen. Vincent genoss die Sonne, die seinen Körper wärmte, während Stephan auf einmal mit einem Cocktail vor ihm stand. „Orangensaft mit Vanilleeis gefällig?“ Was für eine Frage. „Au ja!“, johlte Vincent und nahm den Sanften Engel entgegen. Ein oranges Cocktailschirmchen hing am Glasrand. Vince nahm es ab und steckte es über sein linkes Ohr. „Stylo, oder nicht?“ „Total!“ So lagen sie noch eine Weile bis Stephan auf die allmählich untergehende Sonne zeigte. „Wir müssen.“ Schweigend verließen die beiden das Paradies per Fahrrad und fuhren zurück. Vorbei an Schilf, Birken, Raps, Geisterdörfern und einem geschlossenen Penny-Markt. „Bis Morgen, Kumpel!“, rief Stephan Vincent noch zu, dann bog er in die Gasse, die ihn zu seinem Zuhause bringen würde. Vince radelte zu seinem neuen, eigentlich alten, Haus und stellte das rosa Rad samt Eisprinzessin in den Schuppen. Er würde es Liesl morgen zurückgeben. Sein Vater war nicht daheim. Auf dem Küchentisch stand eine 5-Minuten-Terrine und ein Zettel: „Ich komme spät nach Hause. Iss schon einmal und geh’ nicht zu spät ins Bett.“ Vincent kochte Wasser auf, goss es in den Plastikbehälter und verbrannte sich beim ersten Kosten die Zunge. Im Fernsehen kam nichts. Das Internet war noch nicht installiert. Blöd. Im Radio lief deutscher Schlager, also völlig unhörbares Zeug. In Stille aß er seine Terrine. Sein Blick folgte einer grünlich schimmernden Schmeißfliege, bis sie gegen das Fliegenfänger-Klebeband am Fenster flog. Ein letztes Zappeln, dann ging das Licht aus. Was für ein wunderbarer Tag, dachte Vincent, als er sich bereit fürs Bett machte. Eher aus Langeweile als aus Müdigkeit. So viel Spaß hatte es gemacht, mit Stephan durch den Tümpel zu tollen und so zu tun, als wären sie tatsächlich in der Südsee. Vielleicht wird sein Leben in Brandenburg, in diesem öden Schmiecheln, gar nicht so übel? Zufrieden legte er sich ins Bett und zog die Sommerdecke bis zur Brust. Noch einmal ging er gedanklich durch, wie sich die Delfinhaut nach nassem Luftballon angefühlt und wie salzig seine Lippen geschmeckt hatten, als er aus dem Wasser gestiegen war. Vincent schloss seine Augen. Fast schon eingeschlafen drehte er sich bald auf die Seite. Da pikste ihn etwas an der linken Schläfe. Es war das orange Cocktailschirmchen.







Hanni Roman

Als Kind beginne ich unzählige Kurzgeschichten und beende sie nie. Keine ist gut oder clever genug für die Ansprüche, die ich an mich selbst stelle. Lediglich ein Gedicht zu Halloween schafft es in den Drucker meiner Mutter und wird anschließend jedes Jahr beim Dorfumzug von mir vorgeführt, im Austausch gegen Süßes.

Es folgen Jahre der Gleichförmigkeit, meine Kreativität bleibt auf der Strecke. Stattdessen mache ich ein Einser-Abitur, studiere Moderne Fremdsprachen auf Lehramt und werde eine hingebungsvolle Pädagogin in Berlin. Im März 2020 gehe ich in meinem alten Kinderzimmer eine Kiste voller Andenken durch und finde die unfertigen Manuskripte meiner Jugend. Auf einer anschließenden Weltreise stoße ich auf Doris Dörries „Leben, Schreiben, Atmen“. Ich folge ihrem Rat, schreibe alles auf woran ich mich erinnern kann und entdecke dabei meine längst verschollen geglaubte Inspiration wieder. Nun kann ich nicht mehr aufhören, meine Erinnerungen niederzuschreiben, Lyrik und Prosa zu verfassen.In einer Bergstadt im Bundesstaat Chiapas, Mexiko, endet meine Weltreisevorerst. Hier lese ich „Ungezähmt“ (Glennon Doyle) und „Big Magic“ (Elizabeth Gilbert). Ich bin fasziniert von ihren Aufrufen zum kreativen und selbstbestimmten Leben frei von Angst. Seit der Kündigung meines unbefristeten Vertrags gehe ich meinen Leidenschaften nach und erzähle Geschichten über das, was manchmal fern ist und trotzdem nahe liegt. So ist „Südsee, Brandenburg“ entstanden.





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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