Patricia Malcher für #kkl13 „Über den Tellerrand“
Sendeschluss
Fade. Die Suppe. Sämig zwar, gehaltvoll mit einem Aroma von Sellerie und Karotten, aber eben doch fade. Am Ende gesund? Irma salzt nach. Sie hält ihm den Streuer hin. Hermann verzichtet. Löffel für Löffel der gelben Flüssigkeit wandert in seinen Mund. Nach jedem Schluck klappert sein Besteck aufs Neue auf dem Tellerrand.
Dann, wie aus dem Nichts: „Nach der Predigt kommt die Erneuerung unseres Gelübdes.“ Der Pfarrer sitzt ihm im Nacken. Der Pfarrer, der Bürgermeister und ein Journalist der Tageszeitung haben bereits ihre Fühler ausgestreckt. Nach dem goldenen Glück. Nach dem Jubelpaar. Dazu Hermann. Der sich lächelnd auf alles einlässt, was fremderdings vorgeschlagen wird – Zeitungsinterview, Gottesdienst mit Orgelmusik und Blumenschmuck und nun auch noch die Erneuerung des Eheversprechens.
Irma greift zur Kelle und füllt die Teller ein zweites Mal auf. Hermann lehnt sich zu ihr hinüber und streicht über ihre Hand. Dann isst er weiter. Sie sieht, wie sehr es ihm schmeckt. Ihr selbst ist der Appetit vergangen. Mit dem Löffel rührt sie um, schiebt Bröckchen von hier nach dort, als Hermann das Thema wechselt und beginnt, von den neuesten Ausgrabungen in Peru zu berichten.
Man hätte Kinder haben müssen. Mal die eine oder andere archäologische Sensation auf mehrere Schultern verteilen. Sensationen, die sogar eine Generation überspringen? Geteiltes Leid wäre halbes Leid. Auf der anderen Seite: Kinder hätten ein anderes Ende verlangt. Eine Fortsetzung der Elternschaft ein ganzes Leben lang. Eine Einschränkung ihres Wahlrechts für die kommende Legislaturperiode.
Und dazu die Angst vor dem Verlust. Die Tag für Tag an mütterlichen Nerven zerren würde. Nein, nein, man kann viel aushalten, doch das nun doch nicht.
Hermann ist fertig mit Peru, rückt den Stuhl ab, steht auf und geht hinüber ins Wohnzimmer.
Irma bleibt mit Topf und trüber Einlage zurück.
Man müsste etwas tun. Das, was man von Hermann fordert, selbst umsetzen. Meinung zeigen. Etwas wagen. Und das bisherige Leben? All die Vergangenheit wegschmeißen? Wieder der Kopf. Der Kopf klammert. Die ganze Zeit schon. Das ganze siebenundvierzigste Jahr über. Dann das achtundvierzigste und neunundvierzigste. Immer der Kopf. Aber der Bauch, der Bauch. Ist in der Defensive. Rumort nicht laut genug gegen eine morsche Ehe, die keinen Sturm mehr aushalten würde. Dabei weiß man es schon längst. Und doch … Hermann und Irma, Irma und Hermann.
Nun also nur noch wenige Tage entfernt von herzlichen Segenswünschen.
„Fünfzig Jahre“, hat Hermann gesagt und seine Augen haben vor Stolz geglänzt wie zwei antike, blankgewienerte Goldtaler. „Fünfzig Jahre. Das schaffen die wenigsten.“
Jetzt ruft er, aus dem Sessel heraus: „Hast du meine Hausschuhe gesehen?“
Das sind seine Probleme. Hausschuhe. In der Welt Hunger, Katastrophen und Seuchen, während man selbst gesundheitlich einen ganzen Haufen Leben geschenkt bekommen hat.
Und der Gatte fragt nach Hausschuhen.
Irma grunzt.
„Wo werden sie schon sein?“ Sie lässt ihre Suppe stehen, steht auf, geht in den Flur und schaut in den Schrank. Irgendwie dauerhaft an den Mann bringen, die Schuhe. Dazu noch seine Brille, den Kugelschreiber für das Kreuzworträtsel und den Haustürschlüssel. Ihm einen Sportbeutel auf den Rücken binden, wie im Reha-Zentrum bei Hüftoperierten. Ein tiefer Seufzer dringt aus Irmas Lungen. Aber man weiß es bereits. Am Ende hieße es nur: Hast du meinen Beutel gesehen, Irma?
Sie geht ins Wohnzimmer, wo Hermann sich bereits an der Fernbedienung zu schaffen macht.
„Danke“, sagt er, als sie ihm die Pantoffeln in den Schoß legt. Er schaut kurz auf und lächelt. Schnell dreht sie sich weg.
In der Küche sieht sie sich um. Blickt über die Saftpresse, den Eierkocher und die Fritteuse. Gerätschaften, die sich durch Hermann eingeschlichen haben wie Insektenlarven.
Irma beginnt mit dem Abwasch. Sie lässt heißes Wasser ins Becken laufen, tropft Spülmittel hinein und greift nach den Tellern.
Einfach nicht weiterverfolgen, diese Beziehung. Sie beenden, ehe Falten zu Runzeln werden. Die verbleibenden Jahre nur für die eigenen Interessen nutzen. Für Freude gar?
Aber: Man hatte es versprochen. Damals. Als das Herz noch regelmäßig pumpte, sein Darm unempfindlich war und die Schultern jede Last trugen. Und nun erneuern? Bis dass der Tod uns scheidet? Man müsste es ohne Ableben fertigbringen. Dem Tod nicht die Führung überlassen. Sich stattdessen nach knapp fünfzig Jahren lösen. Versprechen hin, Versprechen her. Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern? Adenauer? Auf jeden Fall ein Politiker. Einfach mal selbst den skrupellosen Kanzler in sich zu Wort kommen lassen. Endlich einmal loskommen von diesem Problem, das sich nun schon so lange hinzieht.
Das Pflaster abziehen, mit einem Ruck, so wie man es als Kind eingebläut bekommen hat.
Sie zieht den Stöpsel, sieht dem dreckigen Wasserstrudel hinterher und trocknet den Schaum von ihren Händen. Dann geht sie ins Wohnzimmer.
Mit nahezu beschwingtem Schritt geht sie zum Fernsehapparat, schaltet ihn mitsamt Erstem Weltkrieg, Tunnelbohrungen, Urzeit-Sauriern, Zeppelin-Flügen und Tiefsee-Monstrosität ab, bäumt sich vor Hermann auf und stemmt die Hände in die Hüften.
„Irma? Ist etwas passiert?“
„Passiert? Das Leben ist passiert.“
„Was ist denn? Soll ich beim Abwasch helfen?“
„Ich werde das Gelübde nicht erneuern.“
Hermann kneift erst die Augen zusammen, dann verzieht er die Mundwinkel zu einem Lächeln.
„Was redest du denn da?“
„Es ist mein Ernst, Hermann.“
Hermann beugt sich mit der Fernbedienung zur Seite. Versucht an ihr vorbei den Doku-Kanal wiederzufinden. Sie nimmt ihm das Gerät aus der Hand und schüttelt den Kopf.
„Wir brauchen Abstand voneinander.“
„Irma, was ist bloß los mit dir?“ Schwerfällig erhebt er sich, geht auf sie zu und legt einen Arm um sie.
Sie schüttelt ihn ab, tritt einen Schritt zurück.
„Fünfzig Jahre sind genug, Hermann. Es reicht.“
„Bekommst du Nervenflattern?“
„Ich war selten so ruhig“, sagt sie und drückt die Schultern durch. „Mit mir wird es keine Goldene Hochzeit geben, Hermann.“
„Das ist doch Unsinn.“
Sie tritt auf ihn zu und schaut ihm in die Augen.
„Ich meine es ernst.“
Dann dreht sie sich um und geht zurück in die Küche. Sie schließt hinter sich die Tür und bleibt in der Mitte des Raumes stehen. Als sie ihren Blick senkt, sieht sie in ihrer leicht zittrigen Hand die Fernbedienung. Mit Schwung öffnet sie die Krimskrams-Schublade und wirft sie hinein. Ein Wort dringt aus den Tiefen ihres Körpers hervor, macht sich laut und gut hörbar Luft: „Sendeschluss.“

Patricia Malcher, 1970 in Recklinghausen geboren, wohnt und schreibt in Lüdinghausen, einer deutschen Kleinstadt im Münsterland.
Im Jahr 2012 beginnt sie mit dem Schreiben zeitgenössischer Prosa. Bereits ihre ersten Texte werden in Anthologien und Literaturzeitschriften sowie als Audio-Dateien veröffentlicht.
Ihr Debütroman LIEB KIND, ein psychologisches Kammerspiel, erscheint 2020 im Independent-Verlag TEXT/RAHMEN, Wien.
Patricia Malcher ist Mitglied des Trios DreiSatz. Gemeinsam mit zwei Dortmunder Autorinnen schreibt sie u.a. Kurzkrimis, die sie bei Festivals (Mord am Hellweg) und Lesungen auch szenisch aufführt.
Im Rahmen des Autorennetzwerkes LiteraturRaum Dortmund Ruhr beteiligt sie sich mehrmals jährlich an literarischen Projekten und Lesungen im Ruhrgebiet und im Münsterland.
Nebenbei schreibt sie Kurztexte für den KulturLieferservice, eine Aktion eines Berliner Illustrators.
Ihr zweiter Roman mit dem Arbeitstitel Nachkoloriert wird derzeit über die Literarische Agentur Kossack angeboten.
instagram.com/patriciamalcher_autorin/
Über #kkl HIER