Das Kind nervt. Dramolett

Maria LEHNER für #kkl13 „Über den Tellerrand“




Das Kind nervt. Dramolett

Mutter (wirkt überfordert): Du nervst. Was heißt das: Du willst wissen, wie es anderswo ist?  Sei doch froh, dass du es hier so gut hast.

Hör zu: Es war einmal ein Krümel von feinstem orientalischen Brot, der zufällig in einem in einem tiefen Teller aus kostbarem Meissner-Porzellan hängenblieb. Es muss wohl an die fünfzehn Jahre her sein. Der Krümel findet: Dort lebt es sich paradiesisch. Er fällt im Zwiebelmuster kaum auf. Der Teller ist einer der unteren (daher nicht in Gebrauch, denn die Familie ist klein, so wie unsere) und nicht der unterste (sodass der Krümel zu sehr durch all die anderen Teller gedrückt wird). Schön in der Mitte, da lebt sichs am besten. Der Krümel ist alle Tage glücklich und mit seinem Leben zufrieden.

(Kind runzelt ungläubig die Stirn)

Mutter: Eines Tages segelt ein Staubkörnchen aus dem siebzehnten Paralleluniversum vorbei – wie ist es nur hierhergekommen? Egal, der Krümel hat jemanden zum Plaudern. „Sieh nur, wie glücklich ich bin“, plappert er drauflos. „Wenn ich spielen will, dann klettere ich an den obersten Rand des Tellers und rutsche hinunter, das eine um das andere Mal. So viel Platz habe ich grad noch, weil mich der Teller über mir kaum berührt. Ausruhen kann ich mich, wann immer ich will, es sieht ja keiner. Wenn ich schlafen will, ist es dunkel genug; wenn ich nicht schlafen will, reicht die Helligkeit aus, die zwischen den Tellern hindurchschimmert. Ist das nicht fantastisch? Das Leben von Präsidentinnen und Nageldesignern ist nichts im Vergleich zu meinem wunderschönen Leben hier am Grund des Tellers! Komm zu mir herein! Dann kannst du es selbst sehen.“

(Kind seufzt gelangweilt und will aufstehen. Mutter drückt es auf den Sessel zurück)

Mutter: Von seiner Neugier getrieben, nähert sich das Staubkörnchen dem Rand des Tellers, um einen Blick hineinzuwerfen. Zur Überraschung des Krümels macht es aber urplötzlich kehrt. Dann schaut es den Krümel mit großen Augen an und sagt langsam und ganz leise: „Feinstes Meissner-Porzellan ist natürlich ein Kultobjekt, aber dein Teller nicht groß genug, um sich die Tiefe des Alls vorzustellen. Das Zwiebelmuster ist unnachahmlich, genügt aber nicht, um die unendliche Weite des siebzehnten Paralleluniversums abzubilden. Was weißt du schon: Es gibt doch nichts Schöneres als All zu wohnen! Oder findest du etwa nicht, Krümel?

(Kind sieht zum Fenster hinaus und gibt vor, nicht zuzuhören)

Mutter (steigert das Erzähltempo): Der ansonsten äußerst gesprächige Krümel weiß nicht mehr, was er darauf antworten soll. Er fühlt sich plötzlich völlig unbedeutend, und starrt das Staubkörnchen an. Über den Rand seines eigenen Tellers hinauszuschauen, ist dem Krümel noch nie in den Sinn gekommen, aber er nimmt es sich vor.

(Kind hört jetzt aufmerksamer zu und erwartet eine positive Wendung)

Mutter: Und tatsächlich: am nächsten Tag kommen mehr Gäste als gewöhnlich. Auch der so selten benutzte Teller wird schwungvoll herausgeholt. „Ah! Ich kann über den Tellerrand schau-…“, da wird der Teller gekippt und eine vorbeihuschende Maus schnappt nach dem Krümel und leckt sich das Maul.

Kind (enttäuscht): Blöde Geschichte. Hatte die Familie einen defekten Geschirrspüler? Und warum stellen sie keine Mausefalle auf?

Mutter (resignierend): Ich sage ja: Du nervst. Tu doch, was du willst.

Und das tut das Kind dann auch.







Maria LEHNER, geb. 1954 in Graz/ Österreich, lebt in Wien. Ausgebildete Elementar- und Sozialpädagogin; auf dem zweiten Bildungsweg Studium der Deutschen Philologie, der Psychologie/ Pädagogik/ Philosophie; Autorin, Lektorin, Jurorin. https://www.marialehnergemischtersatz.at/





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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