Katrin Jahn für #kkl13 „Über den Tellerrand“
„Alles Pappe“
Schmerzen. Mein Kopf!
Die Augen werden aufgezwungen. Weiterschlafen will ich, doch ich muss mich großen Fragen stellen:
wo
und wer
und warum
und wie bin ich?
Philosophisch mag es klingen, doch die Notwendigkeit treibt mich an: Bestandsaufnahme nach durchzechter Nacht. Unbekannte Decke, unverputzt und grau. Ich kann sehen, also ist es Tag. Nur welcher? Das Pochen im Kopf sagt, der Kater ist frisch und der alkoholgetränkte Abend nicht allzu lang vorbei.
Stöhnend beginne ich den Prozess des Aufrichtens. Das Sofa unter mir ist ein feines.
Direktes Blickfeld: Holztisch. Pappteller.
Papptellerrand. Über den blicke ich und sehe Flaschen (leer, fast leer, noch ungeduldig auf Leerung wartend). Aufgerichtet wird sich ganz, gestöhnt mit Inbrunst. Ich sitze. Doch niemand da, der mich lobt.
Eine weitere Frage drängt sich auf: habe ich heute eine Vorlesung? Eine, die ich besuchen muss? Anwesenheitspflicht, du Ausgeburt der Hölle! Ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht.
„Siehst gar nicht so aus“, sagen die Leute immer, wenn ich mich zum Studienfach bekenne. Spießigkeit steht auf dem Stundenplan, denn die Erzeuger haben das Geld und damit die Macht.
Dabei bin der Partyprinz und manchmal auch die Prinzessin. Ich bin Sex, Drugs & Rock’n‘ Roll, ich bin zerlesene Taschenbücher, ich bin Gespräche über Gefühle, ich bin billiger Wein aus dem Supermarkt. Ich bin halbgare Tattoos, Mitbringsel aus Urlaub und Suff. Ich bin Lederjacke und edgy Musikgeschmack, ich bin französische Filme, im Original geguckt und fast verstanden.
Ich schiebe den pappigen Pappteller an die Seite und angele nach der Zigarettenschachtel. Der Aschenbecher ist voll.
Der erste Zug macht Freude, er befriedigt die Sucht und komplementiert mein Selbstbild. So ein Glimmstängel, lässig zwischen den Fingern baumelnd oder verwegen im Mundwinkel hängend, sagt viel über den Charakter eines Menschen aus.
Ich schiebe den Pappteller in die andere Richtung und greife eine Flasche Bier. Es ist warm und schal und ekelhaft, und trotzdem verbessert es immens den Geschmack in meinem Mund.
Noch einmal jung sein und sich aufs Erwachsenwerden freuen.
Noch einmal jung sein und an Freiheit glauben.
Noch einmal jung sein und einfach mit den Fäusten auf den Boden trommeln und aus vollem Halse schreien.
Ob sich die angestrebte Profession so leichter an Mutter und Vater verkaufen ließe? Vielleicht nicken sie alles ab, wenn ich nur das Schrille wieder runterschraube und verspreche, es weiter im (vor ihnen) Verborgenen zu halten?
Es klingt nicht wahrscheinlich. Zumindest kurzfristige Einstellung jedweder finanzieller Unterstützung, eher noch langfristige Enterbung dürfte ich erwarten, wenn ich denn den Musen huldigen und dem Herzen folgend würde.
Die Zigarette raucht sich ganz von allein; ich asche auf den Pappteller. Ach, wenn doch auch die Eltern einen Tellerrand hätten – aus feinstem Porzellan und reinstem Gold meinetwegen – über den sie einmal schauen könnten.
Ich nehme noch einen letzten Zug, füttere den Aschenbecher und lasse mich zurück auf das Sofa fallen. Der Kopfschmerz bleibt, und gleichsam die Fragen:
Wo bin ich eigentlich?
Wer bin ich eigentlich?
Und warum bin ich eigentlich, wie ich bin?
Katrin Jahn, Jahrgang 1984, ist ein echtes Ruhrpottkind: geboren in Dortmund, aufgewachsen in Hagen, Studium der Anglistik und der Geschichtswissenschaften in Bochum. Hauptberuflich haut sie für einen Reiseblog in die Tasten, privat bereist sie die Welt und liest alles, was ihr zwischen die Finger kommt.
Bisherige Veröffentlichungen:
- Roter Löwe in der Anthologie Afrika (hrsg. Carola Käpernick, 2010)
- Franzosengold in der Anthologie zum 3. Bubenreuther Literaturwettbewerb (hrsg. Christoph-Maria Liegener, 2017)
- Bienenstich und kalter Kaffee auf zugetextet.com (2018)
- Jakobitengold in QualiFictions „Bestseller von morgen“ Shortlist (2019)
- Laboraffe in &radieschen „Genie & Wahnsinn“ (2019)
- Messwert seltsam (se) in der Novelle #8 Seltsamkeitsforschung (2021)
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