Christiane Schwarze für #kkl13 „Über den Tellerrand“
Der Preis
In meinem Suppenteller lauerte ein Alligator.
Unbeweglich lag er im Erbsensumpf, seine rauen grünbraunen Hornplatten passten sich farblich perfekt der Brühe und dem zerkochten Gemüse an.
Entdeckt hatte ich ihn überhaupt nur, weil sein Atem meine Wange streifte.
Fast hätte ich laut um Hilfe geschrien.
Wusste ich doch, mit welcher Kraft solch ein Tier plötzlich aus seinem Versteck schnellen, mich mit seinen kräftigen Kiefern in den Teller zerren und ertränken könnte.
Natürlich wäre ich eine Beute, die es nicht als Ganzes verschlingen, sondern in maulgerechte Portionen zerreißen würde.
Ruckartig würde es seinen Kopf in den Nacken werfen und mich Portion für Portion in seinen Schlund hinabbefördern.
Doch bei dieser Zeremonie Kritik am dargebotenen Essen zu üben, galt als grobe Beleidigung der Gastgeber.
Um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, bat ich um ein Glas Wasser.
Gelbliche Rauchschwaden lenkten meinen Blick an das andere Ende des Tisches.
Dort saß Neid und starrte mich unverhohlen an.
Im selben Augenblick begriff ich, wer der Verursacher war!
Hatte ER doch darauf gehofft, den Preis zu erringen, der nun mir überreicht werden sollte.
Als ich am Wettbewerb der Worte teilnahm, hatte mir niemand Beachtung geschenkt.
Ich trug kein Kostüm, sondern eine Jeans und Ledersandalen.
In meiner Tasche befanden sich nur Papier und Bleistift.
Neid dagegen präsentierte einen neuen Anzug und hielt seinen reichgefüllten Zitate-Koffer griffbereit.
Während ich verlegen an einer Cola nippte, schüttelten ihm am Büfett Honoratioren die Hand.
Sektgläser stießen miteinander an, und ihr Klingen schob mich tief in eine unbeleuchtete Saalecke.
Wie also hätte ich vorhersehen sollen, dass die Geschichten mir den Preis verleihen würden?
Nun saß ich auf dem Stuhl, atmete den gelblichen Rauch ein und brachte keinen Löffel Suppe hinunter.
Der Alligator knabberte genüsslich an einem Stück gebratenen Schinkenspeck, vielleicht stellte er sich den als Vorspeise und mich als Hauptmahlzeit vor?
Seine Zähne glänzten mir spitz entgegen.
Geschichten murmelten mir leise etwas ins Ohr.
Da erinnerte ich mich, dass die Macht der Phantasie schon oft mein Leben gerettet hatte.
Entschlossen berührte ich den Rücken des Alligators mit meinem Löffel.
Reglos lag das Reptil in der Erbsensuppe. – Verwandelt in ein Wiener Würstchen.

Christiane Schwarze
Geb. 1960 / lebt in Homberg (Ohm) / ehem. Logopädin in eigener Praxis, jetzt freie Schriftstellerin / Mitglied im VS / zahlreiche Literaturpreise / internationale Künstlerstipendien (Deutschland, Frankreich, Schweden, Schweiz, Spanien) / zahlreiche Lesungen im In- und Ausland / sieben Bücher, davon drei zusätzlich in Brailleschrift und zwei als Hörbuchversionen für Blinde / fünf musikalisch-literarisch inszenierte Hörbücher (mit ihrem Duo TonSatz) / über 300 Einzelveröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Anthologien und Kunstprojekten (Deutschland, Österreich, Schweiz, Dänemark, Spanien) / www.christiane-schwarze.de
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