Kinderlos ex negativo

Theresa Klinz für #kkl13 „Über den Tellerrand“




Kinderlos ex negativo

Es ist mal wieder so weit. Wir sind zu Besuch bei meiner Schwester, drei Stunden Fahrt, ein Haus im Neubaugebiet mit einem Garten, der einem brachliegenden Acker gleicht. Wir telefonieren viel, aber ich sehe sie nicht so oft und meistens fahren wir zu ihr, weil die Fahrt mit ihren zwei kleinen Kindern etwas anstrengend wäre. Gemeinsam genießen wir den gemütlichen Sommernachmittag mit Krümelkuchen, Wespen und Besteckgeklapper auf der Terrasse. Jona, ihr Sohn (auch bekannt unter dem Namen „Jojospatz“), krallt sich seit fast einer halben Stunde an meinem Bein fest. Nächste Entwicklungsstufe: Efeuranke. Meine Nichte Luca („Lula“) dopst jauchzend auf dem Schoß meines Freundes herum, der ihr Gebrabbel mit einem schmerzverzerrten Lächeln erwidert. David wird wohl ein paar blaue Flecken davontragen, die Windel scheint nicht viel abzupolstern. Er fängt kurz meinen Blick auf und ich versuche, mein Grinsen zu unterdrücken. Den ganzen Tag lang wurden wir schon unter Spielzeug begraben, haben Geschichten vorgelesen, Bilder gelobt und Tränen getrocknet. Wir waren albern, wir waren aufgedreht, wir haben herumgeflachst.

Und dann kam der Punkt, an dem die Stimmung kippte. Nein, es war nicht, die Auswahl des Fernsehprogramms. Es war die Bestellung beim Italiener um die Ecke. Die Pizzabeläge standen zwar nach ein paar Minuten fest (Paprika mit extra Käse und Spinat). Aber als wir alle in der Küche standen und die Pizzen aus ihren Kartons schälten, war es plötzlich vorbei mit dem Gekicher.

„Zwei Familienpizzen – Wenn die wüssten…“, giggelt meine Schwester. Ich horche auf. „Wie meinst du das?“, fragt jetzt auch mein Freund. „Na ja…“, zuckt sie mit den Schultern. „Ihr seid ja eigentlich keine Familie.“ Pause. „Also, ich meine, ihr habt ja keine Kinder“, murmelt sie.

„Stell dir vor, das ist mir auch schon aufgefallen“, sage ich. „Ist das jetzt ein Fall für das Betrugsdezernat?“ Bei dem Temperatursturz, der gerade in der lauen Luft ausbrach, waren Weltklimaveränderungen wirklich nicht mehr zu leugnen. Meine Schwester konzentriert sich auf den Pizzaroller. „Keine Sorge, die wollten ja keinen Ausweis sehen!“, versucht sie das Gespräch zu retten. Der Witz trudelt lahm zu Boden und bleibt zwischen uns liegen wie ein Ballon, aus dem die Luft entwichen ist. Eine Weile arbeiten wir schweigend nebeneinander, während David sich mit einem „Ich deck dann mal den Tisch…“ aus der Küche verdrückt. Nachdem ich das letzte Stück Pizza auf einen Teller geklatscht habe, drehe ich mich zu ihr um. „Findest du auch, dass ich keine Familienfilme gucken oder ein Familienalbum führen kann?“ Meine Schwester sackt in sich zusammen. „Reg dich ab, es tut mir ja leid… – Hör mal, können wir das nicht einfach vergessen?“ Ich verkneife mir einen Kommentar, schnappe mir die Teller und eskortiere sie auf die Terrasse, wo mir Jona fast den Finger abbeißt, als er sich auf die Pizza stürzt. „Du Schnappschildkröte!“, ärgere ich ihn. Er grinst zurück, sein Mund mit Tomatensoße verschmiert wie ein Clown, der sich in der Schminke vergriffen hat. Als ich wieder in die Küche komme, wartet meine Schwester bereits auf mich. Offensichtlich, denn sie fängt gerade an, die blitzblanke Arbeitsplatte abzuwischen. „Es ist nur so“, beginnt sie, „ich denke du wärst eine tolle Mutter! Wenn ich sehe, wie du mit Lula und Jojo umgehst… Die beiden himmeln dich an!“ Ich lehne mich gegen den Kühlschrank und verschränke die Arme. Sie wagt einen Blick aus dem Augenwinkel und faltet dann das Küchenhandtuch. „Nun ja, vielleicht kommen sie ja noch, wenn ihr erst mal verheiratet seid.“ Jetzt reicht’s mir! Endgültig. Wortlos stoße ich mich vom Kühlschrank ab und gehe aus dem Raum. Im Türrahmen drehe ich mich noch einmal um. „Weißt du, ich bin auch ohne Kinder glücklich. Für dich mag es der Sinn des Lebens geworden sein, aber hör endlich auf, dein Leben mit meinem zu verwechseln.“ Die Rückfahrt verläuft größtenteils schweigend und David lässt mich in Ruhe, wofür ich ihm dankbar bin. Meine Hände klammern sich ans Lenkrad vor Wut. Während die Leitpfosten an uns vorüberziehen, fallen mir viele, viele ähnliche Situationen ein. Es hatte vor ein paar Jahren angefangen, als praktisch alle meine Freunde zu heiraten begannen. Es war wie ein Erdbeben, dass sich ausbreitete, das alte Leben zerstörte und neu ordnete. Plötzlich zogen viele aufs Land, suchten sicherere Jobs, taten ihre Träume als Utopien oder jugendlichen Idealismus ab und kurz darauf folgten die Nachbeben in Form von Kindern. Ich beobachtete das alles mit Neugier, aber mich selbst betraf es nie. Ich diskutierte darüber mit, welche Kleidung hautverträglich war, welche Vorteile Fläschchennahrung bot, lästerte über neunmalkluge Do-it-yourself-Eltern und hörte mir die Klagen über durchgemachte Nächte an. Aber als sie nach und nach merkten, dass mein Leben nicht in den Kinderstrudel eingesogen wurde, kamen die ersten vorsichtigen Fragen. Und nach der Antwort gleich die zweiten: „Was sagt denn dein Freund dazu?“. Ich dachte mir nicht sofort etwas dabei. Aber dann wurde es seltsam. Eine Freundin weigerte sich partout, ihr Baby aus der Hand zu geben. Ich kannte das: Das erste Mal Eltern, die Sorge, das nötige Vertrauen. Aber dann begann sie, alles zu kritisieren, was ich tat. Verschätzte ich mich in der Zubettgehzeit, erntete ich nur einen mitleidigen Blick. Zog ich mit den Kindern Grimassen, wurde ich als schlechtes Vorbild getadelt. Brachte ich Bonbons mit, hieß es, dass Zucker schlecht für die Zähne sei. Alles kommentiert mit dem Satz „Aber das kannst du ja nicht wissen“, mit dem sie sich besonders offen und einfühlsam wägte. Irgendwann sah ich sie immer seltener. Meine Angebote als Babysitterin schlug sie jedes Mal aus. Ich hatte die Prüfung wohl nicht bestanden. Ich war keine Mutter, keine Nicht-mehr-Mutter, kein Noch-nicht-Mutter, sondern eine Nie-Mutter. Und damit fehlten mir offenbar die grundlegenden Qualitäten zur Kinderbetreuung. Andere zogen sich komplett zurück und mieden jeglichen Kontakt, bis sie mich zufällig in der Schuhabteilung mit meiner Patentochter sahen. „Ich dachte, du magst keine Kinder“, war die Erklärung.

Es hat sich jedoch herausgestellt, dass die Begegnung mit manch anderen kinderlosen Paaren viel schlimmer sein konnte als mit so manchen im Familienleben eingeigelten Eltern. Es war drei Tage nach Nikolaus und wir waren bei Pitt, einem Kollegen von mir, zum Winterumtrunk eingeladen worden. Anwesend war ein weiteres Pärchen. Ich weiß bis heute nicht, ob Pitt uns als Paare „verkuppeln“ wollte; es ist in unserem Alter tatsächlich nicht mehr so häufig, dass man andere Paare ohne Kinder antrifft. Wie dem auch sei. Auf jeden Fall brachte Pitt gerade eins seiner Kinder ins Bett und sein Mann war mit dem Zubereiten einer Bowle beschäftigt, sodass uns genug Zeit blieb uns kennenzulernen. Mehr, als mir schließlich lieb war. Nach ein bisschen Geplänkel kam Robert, so hieß der Mann, ziemlich schnell zur Sache und fragte meinen Freund, woran es denn bei uns liege, und ob er schon ein Spermiogramm erstellt habe. Wie bitte? Nach einer unangenehmen kurzen Stille versuchte David zu erklären, dass wir nichts über unsere Fruchtbarkeit wussten, aber unser Leben kein tragischer Schicksalsschlag war, sondern genauso, wie wir es uns vorstellten. „Dann habt ihr euch gegen Kinder entschieden?“, hakte da die Frau nach. Dabei sah sie mich an. „Eigene Kinder spielen in unserem Leben einfach keine Rolle“, präzisierte ich und warf meinem Freund einen Blick zu. Unterm Tisch verknoteten wir unsere Hände. „Also für Karriere?“, bohrte die Frau nach. Ihrem Mann wurde es sichtlich unangenehm. „Komm, lass doch…“, murmelte er. Aber ich unterbrach ihn. „Natürlich weiß ich nicht, ob ich mit Kindern heute dort stehen würde, wo ich jetzt bin“, versuchte ich zu erklären. „Aber das war keine bewusste Entscheidung. Irgendwie hat es sich so bei uns ergeben.“ David bestätigte meine Aussage mit einem aufmunternden Nicken. „Aber“, drängte die Frau, „wenn du genug Urlaub hättest, die passende Ausbildung, gute Kinderbetreuung, Weiterbildung in der Elternzeit, keine Nachteile für deine Karriere befürchten müsstest… würdest du dann nicht doch Kinder haben wollen?“ Sie redete jetzt nur noch mit mir, während ihr Mann unwohl auf seinem Platz herumrutschte. Ich lehnte mich langsam zurück. „Natürlich wünschen wir das allen, dass sie ohne gesellschaftliche Zwänge individuelle Entscheidungen treffen können, und darin unterstützt werden. Vom Staat, von Unternehmen, Freunden, Familie. Egal, wie diese Entscheidung ausfällt. Und wir – “ (dabei schaue ich meinen Freund an) „– haben uns eben nie für Kinder entschieden.“ Es war ein zivilisiertes und respektvolles Gespräch unter Erwachsenen.

Als Pitt wieder ins Zimmer kam, schrie mich seine Bekannte gerade an, ob ich auch meine eigenen Babys abtreiben lassen würde und dass wir gefälligst dankbar sein sollten, Kinder überhaupt bekommen zu können. Pitt, aus allen Wolken gefallen, versuchte die Lage zu entspannen und wedelte mit gespreizten Händen in der Luft herum. „He, he! Jetzt kommt mal wieder runter. Was ist denn hier überhaupt los?“ Die Frau drehte sich angriffslustig zu ihm um. „Diese geldgeile, egoistische Ziege würde Babys für ihren Job töten!“, ereiferte sie sich. „Wofür hat man denn Geld, wenn nicht für Kinder?“ Ihr Mann fasste sie an den Schultern: „Na, na, so hat sie es nicht gesagt …“ „Stell dich nicht auf ihre Seite!“, fauchte die Frau ihn an und schüttelte seine Hände ab. Dann schnellte ihr Blick zu mir zurück. „Sie haben keine Kinder verdient“, zischte sie mir zu, bevor sie aus der Wohnung stürmte. Der Mann räusperte sich, dann erhob er sich rasch. „‘Tschuldigung, sie ist da sehr sensibel… “, nuschelte er mir zu, als er sich am Tisch vorbeiquetschte und ihr hinterherwatschelte.

Pitt kam aus den Entschuldigungen gar nicht mehr raus, als er uns zur Tür brachte. „…weiß gar nicht, was ich sagen soll… nie gedacht, dass der Abend so laufen wird… tut mir wirklich leid, dass ihr das erleben musstet… Ich verspreche euch, dass sie hier nicht mehr auftauchen werden…“ Aber ich schüttelte nur den Kopf, während er mir in den Mantel half. Auch ich war von der Heftigkeit dieses Ausbruchs schockiert, kaum zu einem Gedanken fähig, aber ich hatte auch Mitleid. Wahrscheinlich hörten sie genauso oft wie wir die ständigen Nachfragen und Bemerkungen. Aber was uns störte, war für sie purer Schmerz.

Dabei war es nicht einmal so, dass ich durch meine Kinderlosigkeit nur Vorteile im Job hatte. Im Gegenteil, manchmal wurde ich für Führungsaufgaben oder Teamarbeit für inkompetent gehalten, weil es mir an Einfühlungsvermögen mangeln sollte. So etwas hatte mir meine Schwester zum Glück noch nie unterstellt, dafür kannte sie mich zu gut. Aber es kam häufiger zu Missverständnissen, weil sie unsere Lebensweise nicht verstand. Einmal hatte ich viel Stress auf der Arbeit und mein Freund war in der Zeit ein paar Tage bei Bekannten, damit ich die Bude für mich hatte. Überall stapelten sich Akten und im Badezimmer verstaubten zusammengeknüllte Döneralufolien neben abgebrannten Kerzenfüßen. Als ich meiner Schwester davon erzählte, wollte sie wissen, ob ich denn wirklich keine Kinder wolle. Ich verstand erst überhaupt nicht, worauf sie hinauswollte. Der ganze Zusammenhang war mir schleierhaft, bis sie schließlich erklärte, dass unsere Beziehung „viel stabiler mit Kindern“ wäre. Einmal führte sie sogar den Rentengenerationenvertrag als Argument für Kinder an, bis ich ihr verklickerte, aus Umweltgründen kinderlos zu sein. Ich hoffe bis heute, dass sie das nicht zu ernst genommen hat.

Als wir endlich in unsere Einfahrt einbiegen, bin ich so erschöpft, als wäre ich mit dem Auto drei Tage durchgerattert. Mein Freund wirft noch eine Banane vorm Zähneputzen ein und dann sinken wir auch schon in unsere Kissen. Während ich Davids ruhigem und gleichmäßigem Atem lausche, wälze ich mich im Bett herum. Ständig tauchen Bilder und Situationen in meinem Kopf auf; ich fühle mich ausgelaugt, ohnmächtig und leer. Irgendwann setze ich mir meine Kopfhörer auf, damit ich meine eigenen Gedanken nicht mehr hören muss und falle in einen losen Schlaf. Der nächste Tag ist ein Sonntag und nach einem ausgiebigen Gartenfrühstück mit Brötchen, Marmelade und Erdnussbutter beschließe ich, doch noch meine Schwester anzurufen. Der Abschied war sicher nicht nur für mich bedrückend gewesen und bisher hatten wir uns immer wieder zusammengerauft. Als sie abnimmt, höre ich im Hintergrund Kindergeschrei und lautes Krachen. „Störe ich gerade?“, frage ich kurz angebunden. „Aber nein!“, schreit meine Schwester in den Hörer. Sie klingt gleichzeitig erleichtert und nervös. Die Geräusche im Hintergrund werden leiser, bis sie nur noch dumpf durch die Leitung klingen. Wir atmen. „Wo bist du hingegangen?“, frage ich, um ins Gespräch einzusteigen. „Ich verstecke mich im Kleiderschrank“, antwortet sie. Wir atmen wieder, dann brechen wir in Lachen aus. „Danke, dass du angerufen hast, ich hätte mich jetzt noch nicht getraut“, beichtet sie mir kleinlaut. Ich will ihre Entschuldigung abwürgen, was mir aber nicht gelingt, und dieses Mal ist sie wirklich ernst gemeint. „Ich würde dich wirklich gern verstehen, weißt du“, schließt sie ihre Rede ab, „aber in meinem Leben dreht sich wirklich alles um die Kinder. Bei allen, die ich kenne. Ich weiß nicht, was du erlebst, wie du dir dein Leben vorstellst, was in deinem Alltag eine Rolle spielt. Und wahrscheinlich mangelt es mir wirklich an Fantasie und Empathie dafür. Aber ich würde demnächst einfach gern meine Klappe halten und dein Leben kennenlernen.“ Das klingt doch nach einem vernünftigen Plan, denke ich. Wir verabschieden uns und ich hoffe, dass sie es durchziehen wird und ihr Versprechen nicht bricht. Auf jeden Fall haben wir ausgemacht, dass sie uns das nächste Mal besuchen kommt und nicht wir. Der erste Schritt ist also getan.




Theresa Klinz, geboren 1997, studiert Linguistik in Regensburg. Theresa schreibt seit ihrer Kindheit Kurzgeschichten und Gedichte und interessiert sich für queere Lebensentwürfe.





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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