Die zwei Königinnen

Cornelia Koepsell für #kkl13 „Über den Tellerrand“




Die zwei Königinnen

Es war einmal in einer Zeit vor unserer Zeit, da herrschten zwei Königinnen über das Land.

Die eine nannte sich Kunigunde oder  „Königin des Chaos“. In ihrem Schloss stapelten sich Papiere, Bücher, Zeitungen, Unterlagen, Lohnsteueranmeldungen, Disketten, Kleider, Teller, Unterhosen und -tassen über- und untereinander. Da keiner auf sie Acht gab, wurden sie frech und begannen ein Eigenleben zu führen. Sie wanderten  ziellos  in den Räumen herum und befanden sich nie an dem Ort, wo die Königin des Chaos sie vermutete und suchte. Es war zum Haare ausraufen und Mäuse melken.

Außerdem konnte sie niemanden  einladen. Der Besuch kam  nicht zum Tor herein, weil es in  dem Chaos entweder  nicht  zu finden oder nicht zu öffnen war. Als ein Besucher es trotzdem geschafft hatte, bis  in die inneren Gemächer vorzudringen, behauptete er tatsächlich, er könne zwischen ihrem Schloss und einem Müllberg keinen Unterschied erkennen. Das tat Kunigunde tief in ihrer Seele weh, denn sie war durchaus sensibel, selbst wenn die eingetrockneten Essensreste auf Tellern, Tassen und  Töpfen es nicht vermuten ließen.

Die andere dagegen, sie nannte sich Sieglinde oder die „Königin des keimfreien Lebens“. In ihrem Schloss gab es keine Lebewesen, weder Würmer, Mäuse, Schnecken, noch Ameisen. Den Inhalt ihrer Schränke, Kommoden und Schubladen hatte sie mit einer eigens hierfür gekauften Wasserwaage perfekt gerade und lotrecht ausgerichtet.  Mit ihrer Putz- und Ordnungswut hatte sie alle vertrieben. Sie säuberte, schrubbte undräumte auf, den lieben langen Tag, und war fürchterlich frustriert, weil alles schon so sauber und ordentlich war, dass es ihr gar keinen Spaß mehr machte.

Auch sie konnte keinen Besuch  empfangen und vereinsamte.  Dem Letzten, der es gewagt hatte, ihr Schloss zu betreten, war Sieglinde auf allen Vieren mit einem Putzlumpen hinterhergekrochen, um seine Fußspuren auf den Kacheln zu beseitigen, in denen sie sich spiegeln konnte. Der Besucher verschwand  mit den Worten, dass er sich mit „Meister Proper“ auch zu Hause unterhalten könne. Das tat Sieglinde tief in ihrer Seele weh, denn  sie war durchaus sensibel, auch wenn der Scheuerlappen in ihrer Rechten und die Klobürste in ihrer Linken es nicht vermuten ließen.

Beide sehnten sich nach Normalität. Kunigunde wollte das Chaos in ihrem Schloss beseitigen und beschloss, als ersten Schritt auf dem dornigen Weg, ihre Kaffeetasse zu spülen. Als sie den Hahn aufdrehte, schoss braunes Wasser explosionsartig  heraus und  ergoss sich über ungespültes Geschirr und eingetrocknete Essensreste. Kunigunde empfand den Zustand nicht appetitlicher als den vorherigen und erkannte nach reiflicher Überlegung, dass ihr gut gemeinter Versuch das Chaos   vergrößerte.

Sieglinde dagegen, die Königin des keimfreien Lebens, beschloss ihr Leben zu ändern, indem sie mindestens eine halbe Stunde am Tag nicht putzte, scheuerte und saugte. Zu diesem Zweck befahl sie einer ihrer Wachen, sie eine halbe Stunde in Fesseln zu legen, damit sie ihrem Trieb nicht nachgeben konnte. Er vergaß  ihre Füße einzuschnüren und so rutschte sie auf Socken über den Parkettfußboden, um ihn auf Hochglanz zu bohnern. Am nächsten Tag, als die Wache  auf ihren Befehl hin auch ihre Füße fesselte, schmiedete sie während der erzwungenen Untätigkeit  Pläne, wie sich das Putzen effektiver gestalten ließ, um den entstandenen Zeitverlust auszugleichen. Sie erkannte scharfsinnig, wie sinnlos es war, die Triebe zu zügeln. 

Beide Königinnen zogen einen Zauberer ins Vertrauen und fragten, was sie tun sollten.

„Da gibt es jetzt ganz was Neues. Nicht billig, aber Ihr habt genügend Geld. Falls nicht, solltet Ihr eine kleine Extra-Steuer auf Eure Untertanen erheben. Geht in das Seminar der Madame Tussaut mit dem Titel ‘Psyche komm raus’. Danach werden eure  Probleme gelöst sein.“

Beide Königinnen besuchten das Seminar, lernten sich kennen und siehe da, schon am zweiten Tag kam ihre Psyche raus. Das gefiel ihnen weit weniger, als sie gehofft hatten. Drei Tage mussten sie hinter der Psyche herlaufen, um sie wieder einzufangen.

Danach war das Seminar zu Ende, die beiden Königinnen gingen in ein Caféhaus, tranken Likör und Cappuccino abwechselnd und beschlossen, ihre Psyche so schnell nicht wieder frei laufen zu lassen.

Keine wollte in ihr Schloss zurückkehren, die Königin des Chaos hatte ihre sich selbstständig machenden Papiere und Akten satt, die Königin des keimfreien Lebens ekelte sich vor den blitzblanken Marmorböden, die sie empfangen würden.

Nach der vierten Tasse Cappuccino und dem fünften Likör kam ihnen die erlösende Idee. Sie tauschten die Schlösser.

Schwankend, aber guten Mutes machten sie sich auf den Weg nach Hause, eine jede in das Schloss der anderen.

Wie genoss Kunigunde, die Königin des Chaos, die duftige Bettwäsche des frisch bezogenen Himmelbetts, auf das sie sich sofort quer legte und selig einschlief.

Als Sieglinde, die Königin des keimfreien Lebens,  das Schloss der anderen betrat, die Aktenberge, das Geschirr, die Unordnung erblickte, da schoss ein nie gekannter Energieschub durch ihren Körper. Er kam einem Orgasmus gleich, den sie  lange nicht erlebt hatte.

Sie krempelte die Ärmel hoch und machte sich  an die Arbeit. Wie im Rausch werkelte, arbeitete und ordnete sie, bis sie vor Erschöpfung mitten in einem der Aktenberge einschlief.

Es dauerte zwei Monate, bis die Königin des Chaos das Schloss der anderen in den gleichen Zustand versetzt hatte, wie ihr eigenes früher war. Ebenso lang brauchte die Königin des keimfreien Lebens, um das Chaos in einem solchen Ausmaß zu beseitigen, dass jedes Lebewesen die Flucht ergriff.

Nun fühlten sich beide nicht mehr wohl. Sie verabredeten sich  im Caféhaus, betranken sich aufs Schönste, tauschten erneut die Schlüssel, gingen nach Hause und machten sich an die Arbeit. So lebten sie glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.

Wenn sie nicht gestorben sind,  schaffen sie weiter Ordnung und Chaos und halten die Welt im Gleichgewicht.




Cornelia Koepsell

Jahrgang 1955

literarisches Schreiben seit 2002

über 100 Einzelveröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien

Auszeichnungen: 3. Preis des Schwäbischen Literaturpreises 2011

3. Preis Frauen Literaturpreis 2014

3. Preis Berner Bücherwochen 2015

3. Preis Frauen Literaturpreis 2016 (Theaterstück)

1. Preis Kunsthaus Lisa 2021

Publikationsliste

Debütroman „Das Buch Emma“ , September 2013

Geest Verlag, ISBN 978-3-86685-409-3

Roman „Lauf weg wenn du kannst“ Juli 2017, Geest Verlag ISBN 978-3-86685-6097





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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