Das Schneckenhaus

Anne Eicken für #kkl14 „Es ist schon alles da“




Das Schneckenhaus

Sie sitzt auf der Bettkante, blasses Mondlicht dringt durch den Spalt des Vorhangs und legt eine feine, weiße Spur durch das Zimmer und auf das Gesicht des Kindes. Sie betrachtet seine geschlossenen Lider, die Augen dahinter unruhig, auf der Suche nach einem Traum. Die Arme hat das Kind weit ausgebreitet, die Handflächen nach oben gerichtet wie kleine Schalen. Sein Körper glüht vor Hitze, ergibt sich still dem Fieber, und sie erschrickt, wie klein das Kind in dieser riesigen Nacht liegt.
Winzige Schweißperlen glänzen auf seiner Oberlippe, die Brust hebt und senkt sich im Rhythmus des Atems und eine beinahe trotzige Kraft geht von der Zartheit des Kindes aus. Sie wendet sich zum Nachttisch, nimmt das Schneckenhaus, aufgefädelt als Medaillon, Trophäe kindlicher Streifzüge, und lässt es an seinem Lederband sanft hin- und herschwingen.

Eines Tages hatte sie beschlossen, dass dies eine passende Behausung für sie wäre und ein sehr leichtes Gehäuse mit hauchdünnen Wänden bezogen. Das Licht warf die Muster der Schale nach innen, verflocht sie mit der schemenhaften Wahrnehmung der Welt, prägte den Schatten wechselnde Ornamente ein – lebendige Tätowierungen, die nachts verschwanden, um im ersten Licht des Tages neu aufgemalt zu werden.
Es dauerte nicht lange, da bekam das Schneckenhaus Risse, löste sich von ihrem Körper, der gewachsen war, und bot kaum noch Schutz. Die Muster verblassten und schließlich zertrat ein Schuh das Häuschen, der Regen spülte die Splitter die Straße hinunter und hinab in den dunklen Schlund der Kanalisation.
Das zweite Gehäuse hatte wesentlich dickere Wände mit prägnanter Maserung, es fühlte sich rauh an, wenn sie darüber strich. Die Rauheit gefiel ihr – ein Widerspruch zur Glätte der Innenwände, samtweich, seidig, ein stetiges Wechselspiel der Farben, zart und flüchtig. Schillerndes Perlmutt im Widerschein von Tag und Nacht, dass sie auf sich selbst zurückwarf: Jeder Tanz tausendfach gespiegelt, jede Geste ein gewaltiger Schatten, der lautlos durch die Gewölbe wanderte und sich erst in der Dunkelheit auflöste.
Nun musste sie Entscheidungen treffen. Ohne Vorahnung blind die Fühler ausstrecken, etwas wagen, wenn sie sich selbst entrinnen wollte.

Natürlich verletzte sie sich.
Zog sich dann tief in ihr Schneckenhaus zurück, pflegte ihre Wunden, wartete bis sie geheilt waren. Ein Anfang folgte auf den nächsten, nie wurde ihr etwas vertraut, nie erkannte sie etwas oder jemanden wieder und nie wurde sie vermisst. Sie hinterließ keinen Eindruck, kaum eine flüchtige Spur, die sich schnell wieder verlor. Sie glitt still und beinahe unsichtbar durch ihr Leben, kroch durch die stillen Gänge ihrer Behausung, wurde von Tag zu Tag kleiner, begann sich zu verlaufen, glitt auf dem schillernden Perlmutt aus und verlor die Orientierung.

Da kam das Kind und steckte das Schneckenhaus in seine Hosentasche, hüpfte davon und bohrte ein kleines Loch in die Schale, zog ein Lederband hindurch und hängte es sich um den Hals. Ihr schützendes Haus wurde ein schwankendes Schiff auf der Kinderbrust, jederzeit bereit zu kentern und sie über Bord zu werfen. Auf hoher See trieb sie durch einen meist heiteren Ozean, jeder freudige Hüpfer eine gefährliche Flutwelle, auf der sie blind dahin raste – welch ein Aufruhr!
Dann, eines Tages, wurde das Kind krank, musste im Bett bleiben, die Mutter nahm ihm vorsichtig das Lederband ab, legte das Schneckenhaus auf den Nachttisch, damit es im Fieberschlaf nicht zerdrückt wurde.
Lange lauschte sie den tiefen Atemzügen, die das Kind durch den Schlaf trugen, ein gleichmäßiges Rauschen, das bis in die Gänge ihrer Behausung floss und sie schließlich nach draußen lockte.

Mit dem Daumen fährt sie über die Maserung, die ihr nun viel weniger prägnant vorkommt, dreht das Häuschen so, dass sie ins Innere schauen kann, aber nichts schillert.
Sie tritt ans Fenster, schaut hinunter in den Garten, über den sich das Mondlicht ergießt wie Silber, die Nacht mit einem feinen, gläsernen Ton erfüllt, den sie nicht wirklich hört aber spürt, und mit ihm kommt die Erinnerung.
Sie lässt sich durch die Zeit gleiten. Bilder, Klänge und Gerüche ziehen an ihr vorüber und durch sie hindurch, steigen aus jeder Zelle ihres Körpers auf, sinken wieder hinab, kaum, dass sie aufgetaucht sind. Unvollständige Bilder, Erinnerungsfetzen, manchmal sogar weniger als das, alles jagt hindurch, rast vorbei, laut, ohrenbetäubend gar und dann plötzlich Stille.
Sie legt die Stirn an die kühle Fensterscheibe, der Mond ist weitergewandert, steht nur noch knapp über dem Waldsaum, sein silbriges Licht wirft lange, dunkle Schatten. Sie zieht den Vorhang ganz zu, sperrt die Lichtspur aus, das Kind dreht sich mit einem tiefen Seufzer zur Seite und sie weiß, dass es nun den Daumen in die kleine Kuhle zwischen Nase und Oberlippe legen wird.
Sie schaut sich in ihrem Kinderzimmer um, betrachtet die selbst gemalten Bilder, die einst die Mutter mit Reißzwecken an die Wand geheftet hat, lässt den Blick die Regale entlangwandern und entdeckt schließlich die kleine Blechdose. Vorsichtig öffnet sie den Deckel, noch sind kaum Schätzen darin, lediglich zwei bunte Federn und ein Ring liegen auf einem Bett aus Watte. Die Versuchung ist groß, das Schneckenhaus hineinzulegen, aber sie weiß, das Kind muss es selbst tun, irgendwann. Sie kann es nicht vorwegnehmen und schließt den Deckel wieder.
Sie legt das Häuschen zurück auf den Nachttisch, betrachtet ihre kleine Kindergestalt, wie sie kraftvoll mit jedem Atemzug dem Fieber trotzt, und plötzlich spürt sie ein Ziehen im Rücken. Dort, wo das Schneckenhaus angewachsen war, beginnen sich die Stellen zu schließen.
Ein feiner Schmerz, beinahe zärtlich, der es unmöglich macht, zurückzukehren, sich das Häuschen wieder aufzuschnallen, um sich darin zu verkriechen. Es werden Narben bleiben, feine, leicht gewölbte Linien, nach denen vielleicht einmal jemand fragen wird, und sie weiß, dass sie den Lauf der Dinge nicht mehr fürchten muss.





Anne Eicken, Jahrgang 1969, lebt und arbeitet in Neustadt a.d. Weinstraße. Sie ist Lehrerin und Poesiepädagogin, schreibt Kurzgeschichten, Kurzprosa, manchmal auch Gedichte, erstellt Textcollagen und arbeitet an ihrem ersten Roman. Bisher veröffentlichte sie vor allem Fachbeiträge und Sachbücher im pädagogischen Bereich, erste literarische Veröffentlichungen in den Literaturzeitschriften „neue literarische pfalz“ und „Wortschau“.





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

Ein Kommentar zu “Das Schneckenhaus

  1. Ganz fesselnder Text, der durch Synästhesie und Syntaxvariation, auch durch Ellipsen und Parallelismen eine suggestive Kraft entwickelt, der man sich gar nicht entziehen kann. Der Text wirkt als Ganzes, man hinterfragt nichts, der Bilderreichtum nimmt einen ein.Groß!!!

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