Renate Maria Riehemann für #kkl14 „Es ist schon alles da“
Das alte Haus
Hitze flimmert auf dem Asphalt.
Ein Auto kommt näher, biegt vor der Kreuzung ab, die ein Mann soeben überquert. Dann ist es wieder still. Er geht auf ein kleines Fachwerkhaus zu. Eine Weile verharrt er auf dem Bürgersteig davor, dann tritt er nah heran an einen verwitterten, von Efeu gehaltenen Zaun.
Das verlassen aussehende Häuschen, das den Mann neugierig gemacht hat, steht zurückgesetzt zwischen modernen Bauten. Grau schimmernde Balken und bröckelnde Lehmgefache wecken in ihm Erinnerungen, die er zu Bildern formen möchte; als warte in seinem Kopf ein vergessenes Buch darauf, gefunden und aufgeschlagen zu werden. Er hängt seine Jacke über ein klappriges Holzschild, dessen Beschriftung nicht mehr zu lesen ist, und schiebt die Pforte langsam auf. Die Scharniere quietschen. Der Rahmen bleibt hängen; steckt fest. Doch für den Mann ist die Öffnung breit genug, er schiebt sich hindurch.
Links der Zuwegung ragen Sommerblumen aus einer ungepflegten Wiese. Rechts liegt Grabeland brach. Hochgeschossenes Unkraut gedeiht auf verkrusteten Erdklumpen. Weiter hinten lehnt eine verrostete Schubkarre an einem kleinen Stall, dessen Tür schief in den Angeln hängt. Schritt für Schritt nähert der Mann sich dem Haus. Dort, wo der schmale Weg nicht von Moos überwachsen ist, glänzt Kies, knirscht unter den Sohlen. Rosen überwuchern eine morsche Bank, nutzen sie als Kletterhalt. Die Haustür ist verschlossen. Klingel und Namensschild fehlen.
Der Mann folgt dem Weg, der vor der Rosenbank am Haus entlang zur Giebelseite führt, dort schmaler wird, um schließlich an der Rückseite des Hauses zu enden. Paarweise in den Hang getriebene Trittsteine führen eine Böschung hinunter. Hier haben Holunder, Schlehe und Weißdorn undurchdringbar von einer vorbeiführenden Bahntrasse Besitz ergriffen. Als der Mann die Stufen wieder emporsteigt, hat er die Rückseite des Hauses im Blick, entdeckt mittig eine schmale Tür, deren obere Hälfte nach außen aufgeklappt ist.
Das Haus scheint doch bewohnt zu sein, stellt der Mann überrascht fest und macht sich auf den Rückweg, um unbemerkt wieder die Straße zu erreichen. Als er die Rosenbank erreicht, sieht er auch die Vordertür offen stehen.
„Hallo!“ Einen Moment verharrt der Mann, wartet auf Antwort.
„Bitte, kommen Sie einfach herein“, bittet ihn eine freundliche Frauenstimme ins Haus, eben als er weitergehen will. Eine Bewohnerin ist nicht auszumachen.
Verunsichert bleibt der Mann auf der Türschwelle stehen. Sein Blick erfasst links im hellen Innenraum einen Herd, daneben einen steinernen Spültisch. Davor steht ein Holztisch mit zwei Stühlen. An der Querseite zum Kochbereich steht ein niedriges Regal mit Geschirr, darüber hängen getrocknete Kräutersträuße. Ein Sofa und ein Sessel stehen in der Mitte des Raumes. Dahinter, an der gegenüberliegenden Seite des Raumes, entdeckt der Mann die schmale Hintertür, deren oberer Flügel noch geöffnet ist. .Links neben der Tür stehen ein kleiner Ofen und gestapelter Holzvorrat, rechts führt eine Treppe ins Dachgeschoss. Unter ihrer Schräge ist eine Nähmaschine aufgebaut. Auf dem Boden davor liegen verstreut Fäden und Stofffetzen, die meisten rot.
„Komm einfach herein, setz dich und gieß dir schon ein.“ Die Stimme kommt aus dem Dachgeschoss.
Dampfenden Tee und eine bauchige Tasse sieht der Mann auf einem Tischchen neben dem Sessel bereitstehen und betritt zögernd den Raum, überlegt, wie sich das unerlaubte Besichtigen des Grundstücks rechtfertigen ließe. Er könnte sagen, dass er eine alte Tante suche und ihr Haus hier vermutet habe. So beruhigt setzt er sich, gießt sich Tee ein und trinkt ein paar Schlucke.
„Du hast dich schon umgesehen. Das ist gut.“ Die Frau, die den Mann eben hereingebeten hat, kommt die Treppe herunter und lächelt ihn freundlich an „Ab morgen sorgen draußen Hühner und Ziegen für Abwechslung.“
Jetzt ist er sich sicher, dass sie jemanden erwartet hat. Um die Peinlichkeit der Situation zu überwinden, lobt er die Einrichtung des Raumes, bedankt sich für den Tee und merkt an, dass seine Jacke noch am Zaun hänge, und dass er jetzt gehen müsse, da er jemanden suche.
„Lassen Sie uns den Schatten genießen.“ Die Frau ignoriert seine Bemerkungen, hakt sich unter und führt den Mann zur Hintertür hinaus.
Sie sitzen schon lange auf den Trittsteinen zur stillgelegten Bahntrasse. Der Mann hat kein Zeitgefühl mehr, fühlt sich der unbekannten Frau auf unerklärliche Weise verbunden. Erinnerungsfetzen, die er nicht zuordnen kann, blitzen auf, hängen sich an dieses Haus. Schließlich fragt er die Frau, wie lange sie hier schon wohne.
„Ich habe auf diese Frage gewartet.“ Sie lächelt, schweigt eine Weile, dann berichtet sie: „Meine Großmutter wurde in diesem Haus geboren und lebte hier bis zu ihrem Tod. Dann stand es leer und verfiel. Ich erbte das Haus von meinen Eltern und wollte es verkaufen. Also kam ich hierher. Es sah von außen verwahrlost aus. Aber als ich hineinging, war es hell, sauber und gepflegt. Jemand hatte es für mich hergerichtet. Ich spürte in allen Dingen die Wärme meiner Großmutter und blieb über Nacht. In dieser Nacht bat sie mich, dieses Haus zu behalten. Das tat ich.“
Nach einer Pause erzählt sie weiter: “Ich weiß nicht, wie viele Jahre seitdem vergangen sind. Vor einigen Tagen dachte ich zum ersten Mal darüber nach, ob ich von hier fortgehen möchte, ob ich aufbrechen sollte. Und als ich gestern aufwachte, wusste ich, dass du kommst. Ich nähte mir dieses Kleid für die Reise.“
Nach einer langen Weile des Schweigens, das der Mann nicht stört, ergänzt sie: „Mehr gibt es nicht zu berichten.“
Während des Erzählens hat sich zwischen dem Mann und der Frau eine große Vertrautheit eingestellt. Als die Dunkelheit die Dämmerung ablöst, gehen sie ins Haus.
Strahlend blauer Himmel fällt durchs Giebelfenster. Der Mann fühlt sich ausgeschlafen und kraftvoll. Er würde gerne liegen bleiben, die Stille und den Ausblick genießen, doch ihm ist klar, dass er einen Irrtum aufzuklären hat und nur hoffen kann, dass der erwartete Besuch noch nicht eingetroffen ist. Der Mann erinnert sich, dass er im morgendlichen Halbschlaf das Rattern eines vorbeifahrenden Zuges wahrgenommen hat.
Als der Mann die Treppe hinuntersteigt, bemerkt er, dass die Stoffreste verschwunden sind. Die Nähmaschine ist versenkt, das Geschirr vom Abend abgewaschen. Niemand ist zu sehen, doch die schmale Hintertür steht offen. Er geht hinaus, um die Frau zu finden und sich zu verabschieden. Das Knirschen, das jeder Schritt im Kies verursacht, hört sich so vertraut an wie der Gesang der Vögel.
Vor dem Haus, das allein zwischen Weide und Wald steht, scharren und picken Hühner. Unter einem Apfelbaum grasen zwei Ziegen. Die Rosen vor dem Haus sind zurückgeschnitten, haben die Bank freigegeben, die jetzt stabil aussieht. Auf den Sitzhölzern liegt die Jacke des Mannes, darunter das verwitterte Schild. Jemand muss es vom Zaun abmontiert haben, überlegt der Mann und liest verwundert: „Haus zu verschenken!“ Er dreht das Schild um: „Ich habe den ersten Zug genommen.“
Der Mann legt Jacke und Schild auf die Bank zurück und nimmt den Spaten zur Hand. Zur Hälfte ist das Grabeland schon umgeworfen.
Aus dem Anfang April im geest-Verlag erscheinenden Erzählband „Die Zeit in den Leinenlumpen“
Riehemann, Renate Maria, 1955, lebt in Osterode am Harz. Pädagogin, Dichterin, Erzählerin. Mehrere Einzelveröffentlichungen, zuletzt Die Zeit in den Leinenlumpen. Erzählungen.2022. Initiatorin des Literaturpreises Harz und Herausgeberin der dazugehörigen Anthologien.
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