Von der Suche nach Erlösung

ELIAS BAAR für #kkl14 „Es ist schon alles da“




Von der Suche nach Erlösung

Enrico hatte sich umgebracht, während Harry zu Hause auf ihn wartete. Er versuchte, nicht mehr so oft daran zu denken, doch wenn er seine Augen schloss, sah er noch immer ihn, ist er wieder zurück in Wien, vor so vielen Jahren, zurück in diesem Zimmer, das er nie wieder betreten wollte, das Zimmer, das stank und nach Hilfe schrie, sah er sich noch immer zwischen Brunnen und Trauerweiden, zwischen Liebe und Schmerz.

Inzwischen lag das alles zehn Jahre zurück. In den ersten Jahren nach Enricos Tod hatte Harry sich oft immer wieder dieselben Fragen gestellt, ob er ihn verleugnet hatte, ob er etwas hätte anders machen sollen, ob er schuldig gewesen war. Manchmal dachte er das. Und dann versuchte er diese Gedanken sofort wieder zu vergessen. Doch an manchen Tagen gelang es ihm nicht und seine Gedanken würden sich an diesen Erinnerungen, an diesen Klängen aufhängen und sie immer und immer wieder in seinem Kopf wiederholen, wie eine Spieluhr, die einmal aufgezogen wurde und sich immer weiter drehte.

Heute war einer dieser Tage.

„Erklären Sie mir … Wie war Ihre Beziehung zu Enrico Baldo?“ Es hallte im Raum.

Sie saßen in einem großen Zimmer, die LED-Lampen strahlten in einem unnatürlichen Weiß. Die Wände waren hoch und die Decke kahl.

Es war Winter.

„Wir waren Freunde“, sagte Harry und schaute dabei nach unten auf den Tisch. Altes Eichenholz, dachte er. Er trug einen Anzug. Er fühlte sich schmächtig.

„Freunde“, wiederholte der Mann, der wohl der Richter sein musste. Ein anderer notierte es.

In den meisten Prozessen, besonders in Kriminalfällen, besteht die Verteidigung gewöhnlich im Schweigen. Ob Wahrheit oder Unwahrheit, der Mensch ist in diesem Moment nicht fähig zu unterscheiden. Die Fragen gehen an einem vorbei, als wäre man selbst nicht im Raum. Als wäre nur der Körper dort, doch der Rest hatte einen schon lange verlassen. Einzelne Körperteile werden plötzlich als zu groß oder zu klein, zu schwer oder zu leicht wahrgenommen. Manche fühlen sich wie in Plastik gewickelt, wie ferngesteuert, und ohne Vernunft. Wir möchten es nicht wahrhaben. Und dann sprechen wir uns selbst schuldig. Auch dann, wenn wir es nicht sind. Der wahre Richter, das sind wir selbst. Und dann schweigen wir, weil wir uns sicher sind.

„Gute Freunde“, fügte Harry hinzu.

Er wusste nicht, warum er hier war. Er wusste auch nicht, was er sagen sollte. Er erinnerte sich an den Tag, an dem er das erste Mal vor einem Richter saß. Doch damals war es anders: Damals war er Zeuge gewesen. Damals gab es einen Schuldigen. Doch heute war Harry sich nicht mehr sicher. War er es, der für schuldig gehalten wurde?

„Sagen Sie mir doch bitte, wo waren Sie an dem besagten Abend? Waren Sie zu Hause?“

„Ich war zu Hause, ja“, sagte Harry.

„Zu Hause“, wiederholte der Mann im Richterkostüm. Ein anderer notierte es.

Harry starrte auf die Uhr an der Wand, knapp am Gesicht des Richters vorbei. Der Zeiger schlug von Viertel nach neun auf sechzehn nach neun. Dann von sechzehn nach neun auf Viertel nach zehn. Oder war es Viertel nach drei? Harry war sich nicht mehr sicher. Schweiß lief ihm die Stirn herunter. Er konnte sich plötzlich nicht mehr sicher sein, wie viel Uhr es gerade war. Er wusste auch nicht mehr, welcher Tag heute war oder welches Jahr. Alles fühlte sich plötzlich so verzogen an, als würde er in einem toten Winkel der Zeit sitzen, an dem Punkt, an dem es keine Zeit mehr gab, zumindest nicht in dem Sinne, wie wir Zeit definieren. Und plötzlich wusste er nicht mehr, wo er sich gerade befand oder was er getan haben sollte. Er wusste all das nicht mehr.

Er fühlte sich, wie auf einer Bühne, als wäre er der Schauspieler, der seinen Text vergessen hatte, den die Zuschauer anstarrten und sich fragten, was los war. Einige waren schnell genervt, er solle endlich weitermachen und plötzlich war der Saal leer, die Zuschauer waren längst verschwunden, es war bereits mitten in der Nacht und ihm, ihm war endlich sein Satz wieder eingefallen. Er hatte gar nicht gemerkt, dass niemand mehr da war. Er stand alleine auf der Bühne, dem toten Winkel der Zeit und dann wurde alles unscharf und dunkel um ihn herum. Er konnte nicht mehr einschätzen, wie weit der Tisch aus Eichenholz von ihm entfernt war, auch die Uhr an der Wand war verschwunden, er konnte sie nicht mehr erkennen. Er fühlte, wie er aus seinem Körper trat, sodass er das Geschehen nur noch von außen betrachten konnte und zu seinem Pech saß er hinter einer verschmutzen Glasscheibe.

Und dann wusste ich plötzlich nicht mehr, wer ich bin oder wer ich war. Ich wusste nicht einmal mehr, wo ich wirklich herkomme. Denn auf einmal war dort nichts mehr. Nur noch verzerrte Gefühle und der Drang, die Spirale so tief nach unten zu gehen, wie nur überhaupt möglich. Es fühlte sich so an, als würden die tausend Stimmen, die Tag und Nacht in meinem Kopf schwirren, noch viel lauter reden, als sie es zuvor schon taten. Als wäre das Geschrei so groß, dass es mich aus mir verdrängt, so weit weg, dass ich nicht mehr zu mir finde. Als hätte man meinen Körper eingenommen und würde ihn nicht mehr loslassen, und mir jeden Tag zu jeder Sekunde erklären, was gut und richtig für einen Jungen in meinem Alter sei, damit ich lebe, wie ich leben sollte, damit mein Körper funktionierte, wie er zu funktionieren hatte, mit all den kleinen Zahnrädern, die über die Jahre perfekt angeordnet worden waren.

„Waren Sie allein?“, fragte der Richter wohl zum zweiten Mal.

„Tut mir leid. Ja, allein“, sagte Harry.

Ist man ein Verbrecher, wenn man die Gesamtheit verbirgt? Ein Lügner, wenn man schweigt? Der Richter hatte ihn nicht danach gefragt. Harry war tatsächlich allein zu Hause gewesen. Doch er hatte auf Enrico gewartet. Gute Freunde. Was hätte er auch sagen sollen? Er kannte die Wahrheit doch nicht einmal selbst. Wie war Ihre Beziehung zu Enrico Baldo? Herr Richter, bitte verschonen Sie mich mit Ihren Fragen. Herr Richter, bitte haben Sie Erbarmen. Herr Richter, ich bin schuldig.

Er wusste es nicht. Er wusste nicht mehr, wer er wirklich war. Er wusste nicht, was wahr und was falsch war. Und somit verriet er nur die halbe Wahrheit. Es war leichter. Es war leichter zu schweigen, als zu sprechen.




ELIAS BAAR wurde 2002 geboren, lebt in      Göppingen und beendete im Jahr 2021 das Gymnasium. Sein Englischlehrer war es, der sein Talent im Schreiben entdeckte und ihn förderte. So fing Baar an, eigene Kurzgeschichten zu verfassen. Zuerst vorwiegend auf Englisch, dann auch auf Deutsch.

Beim Schreiben geht es Elias Baar vor allem darum, die Dinge beim Namen zu nennen. Klar und deutlich schreibt Baar über die Abgründe der menschlichen Gedanken; die Seite, die man keinem gerne zeigen möchte. Doch er schreibt auch über die schönen Seiten des Lebens. So schreibt er über Liebe und Verlangen, über Liebe und Schmerz.





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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