Andreas Roß für #kkl14 „Es ist schon alles da“
Ein Märchen
In einer Zeit kurz vor dem Jetzt, lag unweit dem Hier ein wunderschönes Land. Dort herrschte vollständige Harmonie. Selbst die Naturgewalten taten alles in ihrer Macht stehende, um das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Es regnete lediglich, wenn es notwendig war, ansonsten schien die Sonne. Aber auch diese hielt sich zurück. Sie war nicht unangenehm heiß und stechend, sondern wärmte mit ihren Strahlen die Erde sanft auf. Alles Lebendige fühlte sich wohl. Natürlich auch die Vögel, die lebenslustig zwitschernd und flatternd die Luft erfüllten. Die Landschaft selbst war abwechslungsreich hügelig und eingehüllt in satte grüne und braune Farbtöne, die sich in Freundschaft mit dem klaren Blau des Himmels verbanden.
Mitten in all dieser Pracht wohnte eine junge Frau auf einer Anhöhe allein in einer kleinen Hütte. Oft saß sie in ihrem Garten, fröstelte im Schatten eines riesigen Baumes und ließ die Zeit ungenutzt vorüber streichen. Sie war nicht unzufrieden oder traurig. Würde man sie fragen, wie es ihr ginge, würde sie sagen, sie lebe schon so lange sie denken könne hier und säße in ihrem kleinen Garten unter dem riesigen Baum. Alles sei wie immer und sie ein Teil davon. Ihre Umgebung interessierte sie nicht. Sie nahm sie gar nicht wahr. Sie fühlte nicht die Sonnenstrahlen, hörte nicht die Geschichten der Vögel, die von den langen Flügen durch die Lüfte berichteten, noch konnte sie sich über die Farben der Landschaft freuen. Ihre Welt war kalt, leise und dunkel, aber es war ihre Welt und sie kannte sie nicht anders.
An dem Hausgrundstück führte ein Weg vorbei, der oft von Wandersleuten genutzt wurde. Da die junge Frau sehr schön war, verweilten viele Wanderer an dem Gartenzaun und versuchten mit der Frau ins Gespräch zu kommen.
Eines Tages kam ein junger Mann des Weges. Er verweilte vor dem Gartenzaun und berichtete der Frau von seiner langen Reise und schwärmte von seiner Freundin, der Sonne. Er beschrieb voller Bewunderung die Schönheit und Wärme ihrer Strahlen. Die junge Frau schaute ihn fragend an und sagte, sie würde nicht verstehen, was er meine. Da sprang der Mann über den Zaun, nahm ihre Hände und hielt sie in die Sonne. Er fragte immer wieder, was sie empfände. Die Frau sagte, sie spüre nichts. Kopfschüttelnd und enttäuscht ließ der Mann die Hände los und eilte aus dem Garten, ohne sich zu verabschieden.
Ein paar Tage später kam erneut ein Wandersmann an dem kleinen Garten vorbei, sah die Frau und erzählte ihr von den vielen Vögeln, die ihn auf seinem Weg hierher begleitet hätten. Begeistert berichtete er von den verschiedenartigen Gesängen. Die Frau hörte ihm geduldig zu und sagte dann, sie hätte noch nie die Gesänge der Vögel gehört und wisse auch nicht, was daran so begeisternd sein solle. Der Wanderer blickte die Frau verblüfft an, schüttelte seinen Kopf und verließ sie ohne ein weiteres Wort.
Und wieder ein paar Tage später machte der nächste Wandersmann eine kurze Pause an dem Gartenzaun. Er erzählte der Frau von der Schönheit der Landschaft und von dem wunderbaren Farbenspiel, das sich darauf abzeichnete. Verständnislos hörte die Frau zu und sagte, sie könne bei diesem Thema nicht mitreden und es wäre ihr auch egal. Der Wandersmann wollte dies nicht glauben, sprang über das Gartentürchen, nahm den Kopf der Frau in seine beiden Hände und drehte ihn in Richtung eines frisch gepflügten Feldes. Er fragte, was sie sehe. Darauf antwortete sie, es sei alles gleichmäßig grau. Enttäuscht darüber, dass die Frau nicht das sah, was er wahrnahm, ließ der Wandersmann ihren Kopf los und verschwand auf Nimmerwiedersehen.
Mittlerweile hatte sich unter den Menschen herumgesprochen, dass die junge Frau, die auf der Anhöhe lebte, sehr ungewöhnlich sei. Man sprach darüber, dass es sich nicht lohnen würde, dort eine Pause einzulegen.
In den nächsten Wochen spazierten zwar noch einige Wanderer an dem Grundstück vorbei, aber keiner verweilte an dem Gartenzaun. So vergingen Wochen und nichts geschah.
Eines Tages dann unterbrach ein alter weiser Mann seine Wanderschaft. Die junge Frau war froh, dass wieder einmal jemand bei ihr pausierte. Sie sprach mit ihm, und er hörte ihr aufmerksam zu. Nachdem sie zu Ende gesprochen hatte bat der weise Mann, sich in ihrem Garten niederlassen zu dürfen. Es wurde ihm erlaubt und so setzte sich der Mann auf die Bank. Beide schwiegen. Der weise Mann beobachtete die junge Frau sehr konzentriert.
Plötzlich lächelte er sanft, nahm ihre Hände, streichelte sie und befreite sie von den dicken Handschuhen. Er hielt die nunmehr nackten Hände der Sonne entgegen und die Frau konnte zum ersten Mal in ihrem Leben die Wärme der Sonnenstrahlen wahrnehmen. Sie war von diesem Gefühl so überwältigt, dass sie gar nicht bemerkte, wie der weise Mann hinter sie trat und seine Hände behutsam auf ihre Ohren legte. Als er seine Hände zurückzog, hielt er in jeder einen Ohrstöpsel. Die Frau schaute erschrocken auf. Die Töne der Umgebung drangen an ihre Ohren und verbanden sich in ihrem Gehirn zu einer unbeschreiblichen Symphonie. Sie lauschte und lächelte.
Schon hob der weise Mann abermals seine Hände und führte sie an die Augen der Frau. Im nächsten Moment hielt er darin eine dunkle Sonnenbrille, die er behutsam zusammenklappte und in seiner großen Manteltasche verschwinden ließ. Die Frau blinzelte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Unerwartet waren überall wärmende Sonnenstrahlen, zwitschernde Vögel und die Umgebung erstrahlte in sanften Farben.
Die Frau erhob sich von ihrer Bank, lachte laut, drehte sich erst im Kreis, dann tanzte sie nach einer Melodie, die tief aus ihrem Inneren kam. Nachdem sie zu Ende getanzt und gelacht hatte, dankte sie dem weisen Mann, verließ ihren Garten und begab sich auf Wanderschaft.

Andreas Roß, geboren 1962 in Ostheim, einem kleinen Kaff in der Nähe von Hanau, lebt seit 1985 in Darmstadt, verheiratet, zwei Söhne und von Berufswegen seit mehreren Jahrzehnten als „Mundwerker“, also Sozialarbeiter, unterwegs.
Neben zwei Kurzgeschichtensammlungen „Begegnung mit dem Berserker“ (2011) und „Das Leben ist eine Zicke“ (2018) sind vier Kriminalromane erschienen, „abgedrückt“ (2013), „weißkalt“ (2015) „Tage, die alles verändern“ (2017) und „Innere Schreie“ (2020). Von 1996 bis 2008 monatlich Kurzkrimis in dem Darmstädter Magazin „Vorhang Auf!“.
Mitglied der Textwerkstatt Darmstadt unter Leitung von Kurt Drawert (2003 – 2010) und siebenmaliger Gewinner regionaler Literaturpreise.
Diverse Auftritte bei Poetry-Slam Veranstaltungen und Veröffentlichungen auf CD.
Seine Zuneigung zum Krimi-Genre entwickelte er insbesondere in der Zeit, als er in verschiedenen Justizvollzugsanstalten tätig war und so einige Geschichten hörte, die inspirieren können, zumal anscheinend nichts unwahrscheinlicher ist, als die Realität. Dazu kam die Liebe zu seiner Wahlheimat Darmstadt.
www.krimiautor-ross-darmstadt.de
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