Sarah-Marie Stumpf für #kkl14 „Es ist schon alles da“
Lieblingsmensch
Was sehen wir, wenn wir uns selbst betrachten? Was halten wir für nötig, um uns gut zu fühlen? Und wo können wir suchen, um es zu finden?
Es ist früher Morgen, als sie ihre Augen langsam öffnet. Gähnend nach dem Grund suchend, wegen dem sie das Land des Schlafes verlassen hatte, manifestiert sich langsam das Bild des sanft in der Morgenluft wehenden Vorhangs vor ihren Augen. Er ist weiß, blütenrein, ebenso wie der gerade anbrechende Tag. Das helle Blau des Himmels ist ein Versprechen, keine Wolke trübt die Aussichten auf einen wunderschönen Frühlingstag. Sie reckt und streckt sich, richtet sich auf und hält erneut inne, genießt den Moment der inneren Ruhe zwischen dem Schlafen und Aufstehen. Nun dringen auch die Geräusche an ihre Ohren. Das aufgeregte Zwitschern der Vögel in den Büschen unter dem Fenster, die bereits so früh offenbar so viel zu erzählen hatten, das Hacken eines Spechtes am Stamm eines Baumes und das sich ziehende Röhren der Kettensäge eines ungeliebten Nachbarn. Letzteren identifiziert sie als den Übeltäter, der sie aus der Welt der Träume gerissen hatte. Doch wieso sauer sein? Es ist März, die Natur erwacht aus der allzu langen Pause der kalten Jahreszeit und die Motivation durchfährt sie wie ein Stromschlag. Voller Energie, springt sie aus dem Bett und tänzelt für eine schnelle Katzenwäsche auf das Badezimmer zu. Heute wäre doch ein geeigneter Tag, um endlich wieder sommerlichere Kleidung zu tragen! In Gedanken an ihr Lieblingsshirt, wirft sie einen Blick in den Spiegel. Also, letzten Sommer war das irgendwie anders. Die Leichtigkeit in ihren Bewegungen verschwindet und das Lächeln ist wie aus dem Gesicht gewischt. Kritisch richtet sie den Fokus nun auf die Beine, die sich mit einem Mal um einiges stämmiger anfühlen, als noch vor einer Sekunde. Wann war das denn passiert? Und ihr Bauch erst, seit wann waren der denn nicht mehr so flach wie gewohnt? Einer plötzlichen Eingebung folgend, stellt sie sich genau vor die spiegelnde Scheibe, zieht das Nachthemd über den Kopf und mustert ihr Gegenüber. Hamsterbäckchen, speckigere Arme, Fettpölsterchen am unteren Bauch, vor dem Teil abwärts der Hüfte graust es ihr geradezu. Wo waren die schlanken, durchtrainierten Beine hin, die sie im letzten Jahr stolz präsentiert hatte? Was war heute nochmal für ein Tag? Genau, wenn sie nun direkt anfangen, ab heute mehr Sport treiben und ihre Ernährung etwas kontrollieren würde, dann wäre sie pünktlich zur neuen Jahreszeit bereit. Nur ein bisschen warten, ein bisschen anstrengen. Sie wendet sich ab und läuft ins Bad, wo sie sich fertig macht für den Tag. Sie würde ihn schon herumbekommen, einfach nicht in den Spiegel schauen und dann wäre bestimmt auch bald Mai.
Worauf wartet das Mädchen denn? Sie blickt auf die eben getippten Zeilen, das Abbild einer Realität, vor sich. Ein Tag wie ein Gemälde, sonnige Wärme auf den langsam ergrünenden Wiesen und ein Himmel von einem Blau, für das große Künstler ihre rechte Hand geben würden, wenn sie es verewigen könnten. Und dieses Bild von einem Frühlingstag, er wurde reduziert auf einfache 24 Stunden bis zum Nächsten, die man verfliegen lassen möchte, um einem ganz bestimmten Ziel näher zu kommen. Was ist nochmal das Ziel? Schön genug sein. Doch wer ist eigentlich schön? Jemand, der eine Lücke zwischen den Beinen hat, dessen Bauch flach ist und den die Schwerkraft, was den Po angeht, einfach übersieht?
Jeden Morgen erwachen Menschen, fühlen sich stark und frei, als könnte heute der beste Tag ihres Lebens werden. Alle Arten von Persönlichkeiten, alle Formen von Körpern. Ob dick, dünn, trainiert oder nicht, ihre Besitzer strahlen und freuen sich. Malen sich die wundervollsten Szenarien für den Verlauf der folgenden Stunden aus, bis sie schließlich sich selbst gegenüberstehen. Bis zu dem Moment, in dem oft das Funkeln die Augen verlässt, der lächelnde Mund sich kritisch verzieht, die Vorwürfe unsere Gedanken erfüllen. Warum waren wir gestern nicht stärker? Warum haben wir die Portion ganz gegessen? Warum sind wir nicht zum Sport gegangen? Warum sehen wir aus, wie wir es tun? Bis zu diesem Moment, war jeder von uns die schönste Person, die man sich vorstellen kann.
„Was brauchen wir?“, fragt der Mann, der vorsichtig den Einkaufswagen durch den Laden manövriert. Seine Freundin lässt den Blick über die Regale schweifen:
- „Die Grundnahrungsmittel haben wir da, worauf hast du denn Lust? Wir könnten auch heute mehr kochen, den Rest morgen mitnehmen und abends einfach etwas bestellen, immerhin ist Sonntag.“. Er nickt zustimmend und sie laufen los.
- „Also was du willst keine Ahnung, aber ich habe einen Plan für die nächsten drei Tage erstellt und bräuchte auf jeden Fall Frischkäse, Spinat, Karotten und Himbeeren, der Rest ist schon da. Du hast doch nichts dagegen, wenn wir einfach separat kochen?“, mit diesen Worten macht sie sich auf den Weg zum nächsten Regal.
Wer bist du, wenn du loslässt? Lachst du gerne und oft, bis dein Bauch wehtut? Bist du vielleicht schüchtern, bis du dich willkommen fühlst und auftaust? Singst du viel? Malst du? Oder favorisierst du Mathematik und könntest Stunden mit dem Lösen von Gleichungen verbringen? Wer bist du, wenn du nur du selbst sein darfst, wenn du dir erlaubst, zu fliegen? Achte auf die Momente, die du erlebst, denn die Erinnerungen werden bleiben.
Sie war ein übersprudelnder Quell der Lebenslust, fand an jedem Stein etwas „unvergleichbar fotografier-würdiges“, sprang um ihn herum, bis sie müde war und mit großen Augen dramatisch: „Ich brauche Kaffee, sonst falle ich auf der Stelle um“, flüsterte. Sie verbrachten die Zeit wie im Rausch, aßen auf Holzbänken an einigen sehenswerten und einigen weniger sehenswerten Orten der Stadt, kochten zusammen, lasen zusammen und entdeckten nicht nur die Metropole, sondern gleichzeitig ganz neue Facetten an sich selbst und aneinander. Es war wie ein Traum, der krönende Abschluss der Freiheit, die sie sich vor ein paar Monaten selbst geschenkt hatte. Als sie sich gelöst hatte von ihren selbst auferlegten Zwängen, im Wissen, dass sie jederzeit wieder zurück in die Sicherheit, die sie kannte, gehen könnte. Der Urlaub war etwas Besonderes, doch es war nicht die fremde Umgebung, die ihn zu etwas wahrhaft Zauberhaftem werden ließ. Es war die Spontanität, die ehrliche Freude in ihren Augen. Denn am liebsten war es ihm, wenn sie sie selbst war. Er dachte daran, wie sie an einem Abend der Woche zuvor Pizza bestellt, mit vollem Bauch beieinander gelegen und eine Serie geschaut hatten, statt ihr auszureden, stundenlang spazieren zu gehen, um die Kalorien zu verbrennen.
Sie: „Ich liebe die Person, die ich bin. Ich verändere mich, fühle mich frei und voller Möglichkeiten, die ich nur ergreifen muss. Wenn ich Hunger habe, esse ich auf was ich Lust habe. Wenn mir langweilig ist, unternehme ich etwas mit Freunde. Wenn ich Sport machen möchte, mache ich es. Wenn ich wenig Schritte gesammelt habe, schalte ich den Zähler aus und statt mich schlecht zu fühlen, erzähle entspannt mit dir, bis wir einschlafen.“
Doch was sollte er jetzt wieder tun? Reichte er ihr nicht und das, was sie zusammen waren? Für wen wollte sie sich nun verändern?
Er: „Ich verstehe dich nicht. Wofür tust du das dann jetzt? Schau mal, du hast deine Familie, die dich liebt. Du hast deine Freunde und mich, die dich lieben. Dabei geht es uns nicht um deine Form, um die perfekten Beine, oder einen flachen Bauch. Wir lieben dich immer, deinen Charakter und Körper in jedem Zustand. Verstehst du es nicht? Stellst du dir so dein Leben vor? Jeden Tag daran verschwenden, ein Maß an Perfektion zu erreichen, dass weder für dich, noch für mich wichtig ist? Du wartest und wartest, statt die Gegenwart zu genießen und glücklich damit zu sein“.
Es ist das Beispiel einer Beziehung zu sich selbst, die so kein Einzelfall ist. Jeden Tag erwachen Frauen und Männer voller Vorfreude auf das was kommen könnte, bis sie realisieren, wie wenig sie einem, mittlerweile doch endgültig überholten, Ideal entsprechen. Ein bestimmtes Körperbild macht nicht unseren Charakter aus, bringt andere nicht dazu, uns mehr zu mögen, macht uns auf Dauer nicht glücklicher. Es spricht nichts dagegen, gewisse Ziele anzustreben und an sich zu arbeiten, was sogar gut ist, solange wir uns damit besser fühlen. Man sollte jeden Tag daran arbeiten, das Beste aus sich herauszuholen. Das Entscheidende dabei ist jedoch, nicht zu vergessen, dass Vollkommenheit für jeden anders definiert werden muss und diese Ziele nicht als Ausreden dafür gedacht sind, warum wir aktuell nicht glücklich sind und sein können. Wir dürfen nicht aus Angst vor Veränderung gewohnte Muster zu falschen Sicherheiten emporheben, die uns nicht nur einschränken, sondern uns auch einen Teil der Lebensfreude nehmen. Denn darum geht es doch, um die Gesundheit und die Entwicklung der Persönlichkeit. Die Geschichte des Mädchens könnte nun auf zwei Arten weitergehen: von Zwängen, Restriktionen und Selbstzweifeln geprägt, oder erfüllt von gutem Essen, spontanen Erlebnissen und einer wieder entdeckten, neuen Freiheit. Und genau das sind die Entscheidungen, vor denen nicht nur sie steht, sondern auch ich und du. Jeder Tag birgt eine neue Chance und bevor du jetzt aufstehst und weitermachst, kehre kurz in dich und halte dir folgendes vor Augen: Glücklich steht dir wirklich gut.
Die Sonne befindet sich nun hoch am Himmel, die Kaffeetasse neben ihr auf dem Schreibtisch ist lange ausgetrunken. Sie hebt den Blick, mustert die farbenprächtigen Rosen, die sie am achten März geschickt bekommen hat und lächelt. Weltfrauentag. Das war der Anlass des Geschenkes gewesen, ein Zeichen der Liebe, die ihr entgegengebracht wurde. Mit flatterndem Herzen wendet sie ihre Augen erneut dem Bildschirm zu und tippt abschließend die letzten Zeilen. Was sie braucht um glücklich zu sein? Sie hat sich für sich selbst entschieden, hat plötzlich gemerkt: Es ist schon alles da.
Sarah-Marie Stumpf. Studentin, Hobbyautorin, veröffentlichte Kurzgeschichte in Anthologie.
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