Martine Betz für #kkl14 „Es ist schon alles da“
Ausblicke
Durch dreckige Fenster
sehe ich nur grauen Dunst.
Allein zwischen Menschen.
Das monotone Drippeln der Wassertropfen von meiner Zimmerdecke ist zu einem lauten Donnergrollen angeschwollen, jedes Mal, wenn einer in den dunkelblauen Plastikputzeimer prasselt, den ich auf meinem einzigen Badetuch, ein mittlerweile fleckiger rauer Lappen, der kaum mehr dem flauschigen weißen Spa-Tuch ähnelt, als welches ich gekauft habe, zum Auffangen des Wassers aufgestellt habe. Ich habe schon mehrfach den Entschluss gefasst rauszugehen, um dem dumpfen Dröhnen zu entkommen, aber mein Blick haftet in tagträumerischer Trance an meinen ungeputzten Fenstern. Die Stimme meiner Mutter schallt aus der Vergangenheit, dass man die Fenster sauber halten muss, besonders, wenn man an einer starkbefahrenen Straße lebt, ansonsten kriegt man den Dreck nie mehr runter. Ich habe nur diesen einen Putzeimer.
In Gedanken
verpasse ich den Moment,
um anzufangen.
Wenn ich abends in meinem Bett liege und in spärlichem Licht an die fleckige Zimmerdecke starre, meiner Fantasie erlaube, wundersame Wesen in den braunen Rändern getrockneter Pfützen zu sehen, dann bereue ich es, dass ich mich damals gegen eine Kaltschaummatratze entschieden habe. Die Preisersparnis einer Federkernmatratze kam mir vor, wie eine sehr vorbildliche finanzielle Entscheidung, eine Überlegung, die meine langen Schritte ins Erwachsenenleben nur nochmal so richtig unterstrich. Damals kannte ich noch keine schlaflosen Nächte der Rückenschmerzen, während sich das spitze Ende einer Metallfeder von hinten zwischen zwei Rippen bohrte. Wenn in den frühsten Morgenstunden das Tagleben beginnt das Nachtleben abzulösen, werde ich endlich Schlaf finden. Genau wenn mein Wecker klingelt.
Von einem Menschensee
umgeben, ein reges Treiben.
Anonymität.
Die staubige abgestandene Luft, die von einem Meer aus Halogenleuchten aufgeheizt wird, fließt nur zäh in meine Lungen. Gerade genug, dass ich den dumpfen Druck in meiner Brust ignorieren konnte. Das Händeschütteln, die Vorstellungsrunde, der Small-Talk, immer wieder und wieder. Gesichter zerfließen in eine homogene Masse, die unter der Hitze der Lampen schmelzen. Mit jedem Wort trocknet mein Mund weiter aus, die Lippen werden rissig, obwohl ich mich seitdem ich angekommen bin, an meinem Wasserglas festklammere, als wäre es meine Rettungsleine im Menschenmeer.
„Hallo, mein Name ist… und ich komme vom Unternehmen…“
Freundlich lächeln, nicken, antworten.
„Was sind Ihre Stärken?“
Die einstudierte Antwort stolpert aus meinem ausgedorrten Mund wie ein Rehkitz, das seine ersten Schritte macht.
Träume werden alt.
Mit faltigen Gesichtern
Sterben sie unerfüllt.
Als ich ein Kind war, als man sich die Knie aufschlug und das Brennen nicht spürte, weil man sich aufraffte, um weiter zu rennen, als man den ganzen Tag Seil sprang, durch Kreidekästchen hüpfte und mit dem Rad durchs ganze Dorf fuhr, ohne müde zu werden, als man bis in die Spitze des alten Kirschbaums der Großeltern kletterte und sich mit vor Stolz geschwollener Brust umguckte, als hätte man die Welt bezwungen, spürte ich keine Angst. Meine Träume ragten bis über die Baumkronen und Häuserdächer unserer Nachbarschaft hinaus, ich wollte die Welt bezwingen. Ich fühlte mich anders als alle anderen, meine Ideen waren unfassbar, meine Vorstellungen noch nie dagewesen. Vor mir war nur die Ferne, die darauf wartete, verändert zu werden, auf eine Weise, wie es noch nie jemand getan hatte.
In der Gewissheit
eine von vielen zu sein
finde ich Ruhe.
„Hast dus schon gehört? Die 90er sind wieder voll im Trend!“
Wenn ich in meiner Wohnung sitze, die nur eine von vielen Baugleichen ist und mit meiner Freundin eine Tasse Kaffee trinke, während wir über Dinge reden, die wir machen, die uns passiert sind, die wir im Internet gelesen, auf YouTube gesehen, auf Netflix geguckt, auf Instagram geliked haben, fühle ich, dass ich eine von vielen bin. Die Grenzen zwischen meinem Leben und der Welt zerfließen an den Rändern zu Gemeinschaften, die den gesamten Globus umspannen.
„Ach und hast du mitbekommen, dass West Side Story im Kino läuft?“
Der Winter ist vorbei. Das Eis in meiner Brust schmilzt zu einem Rinnsal, das die aufblühenden Vorboten meines Lebens nährt. Und zum ersten Mal seit langem fühle ich, wie ein tiefer Atem meine Lungen füllt.
Über den Horizont
Klettert kraftvoll hervor
Mein Sonnenaufgang.
Martine Betz, geboren 1997, lebt und arbeitet nach einem Studium der Germanistik, Anglistik und Politikwissenschaft in Hessen.
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