Susanne Wirtz für #kkl15 „Nähe“
Flussnähe
An einem Februartag nehme ich die kleine Porzellandose mit deiner Asche aus der Wohnzimmervitrine und fahre an die Erft. Ich gehe an die „Zimmerchenbrücke“, die seit einiger Zeit wegen Baufälligkeit gesperrt ist. Zu ihr gehört das Schwarz-Weiß-Foto, das mich als Vierjährige zeigt. Mit flatterndem Kopftuch, Rock, Strumpfhose und „Klubjacke“ stehe ich am Brückengeländer, mein Arm weist in Richtung unseres Bungalows und das Fenster meines „Kinderzimmers“.
Unser letzter Spaziergang einige Wochen vor deinem Tod führt uns noch einmal an die Erft. Deine Schritte sind langsamer und vorsichtiger geworden, aber deine Worte lassen, wie eh und je, die Geschichten der Häuser, ihrer Bewohner und der Landschaften lebendig werden. Du erzählst von der Zeit, als dein Vater in der Erft badete. In Gedanken blättere ich in einem der alten Fotoalben. Das Bild ist sofort da: Ein junger Mann mit Nickelbrille steht von seinen Kameraden umringt in knietiefem Wasser, alle tragen Kaiser-Wilhelm-Badeanzüge.
Deine Asche gehört in die Erft, den Fluss deines Lebens und deiner Vorfahren. Du hast mir Heimat gegeben an diesem Fluss. Durch ungezählte Erinnerungen und Geschichten ist er auch zu meinem Fluss geworden. Als Kind träumte ich einmal von einer Reise flussaufwärts bis zur Quelle. Den Flutkanal entlang ging es durch flaches Land bis zu einer Steinmauer mit einem eingelassenen Loch, aus dem das Wasser sprudelte. Dass die schnurgerade Linie der Erft nicht ihrem natürlichen Lauf entspricht, habe ich erst spät erfahren. Weder du noch dein Vater haben den Fluss erlebt, als er sich noch natürlich durch das Rheinland schlängelte. Natur und Landschaft haben niemanden in der Familie besonders interessiert. So erinnere ich mich nicht, dass wir auf unseren Spaziergängen Vögel oder andere Tiere beobachtet, Blumen gepflückt oder Pilze gesammelt hätten. Die Landschaft genügte uns als Kulisse unserer Geschichten und Erinnerungen.
Ich suche nach einem geeigneten Platz. Als ich ihn in der Nähe der „Zimmerchenbrücke“, kurz vor der Mündung der Großen Erft in den Flutkanal, gefunden habe, bahne ich mir einen Weg durch die hohen Gräser der Uferböschung hinunter zum Fluss.
Im Schwimmbad verliere ich das Wulle-Wulle, eine winzige Puppe, die ich auf der Frühjahrskirmes als Beigabe zu einer Flasche Liebesperlen bekommen habe.
Tagelang löchere ich dich: „Papa, wo ist das Wulle-Wulle jetzt?“
„Also, wenn es wirklich in die Kanalisation geraten ist, fließt es jetzt durch viele Rohre in die Erft.“
„Und dann?“
„Dann kommt es nach einer Weile in einen anderen, größeren Fluss, den Rhein.“
„Was kommt danach?“
„Die Nordsee, der Rhein fließt ja in die Nordsee.“
„Ist mein Wulle Wulle jetzt schon in der Nordsee?“
Du schaust angestrengt. „Ich glaube, dafür braucht es viele Monate.“
„Dann ist es aber zu Weihnachten dort, nicht wahr, Papa?“ Abends suchen wir im Autoatlas die Nordsee.
„Guck, hier in Rotterdam fließt der Rhein ins Meer; wenn das Wulle-Wulle es bis dahin schafft, steht ihm die Welt offen.“
Mir steht der Mund offen. „Was für ein Meer kommt danach?“
„Der Atlantik. Und dahinter“, fügst du, das erneute Fragezeichen auf meiner Kinderstirn vorwegnehmend hinzu, „liegt Amerika.“
Ein halbes Jahrhundert später ist es an dir, dich hinaus in die Welt treiben zu lassen. Ich öffne die Porzellandose. Vorsichtig streue ich das grau-weißliche Granulat Prise für Prise in den Fluss, der es sofort aufnimmt und davonträgt. Die Erft riecht wie damals, als neben dir das kleine Mädchen im Sonntagskostüm hüpfte. Es liebte das fichtennadelgrüne Wasser in der Badewanne, das blaue im Schwimmbad und das weiße Wasser des Springbrunnens vor der Stadthalle. Nicht einmal das Meer fürchtete es. Vor der Schleuse in Zieverich aber, wo es toste und brauste, wurde ihm angst und bange. Das Mädchen streckte die kleinen Arme aus und du trugst es über den schmalen Steg ans andere Ufer.

Susanne Wirtz, Jg. 1964, hat in Köln und Haifa Geschichte, Judaistik und Politik studiert und anschließend ein Volontariat bei einer Wochenzeitschrift absolviert. Sie arbeitete als Wissenschaftsredakteurin und freie Journalistin für WDR, NDR, Deutschlandfunk und SWR.
Veröffentlichungen (Auszug):
- 2021: „Flussreise“ in: RTKbewegtsich – Zeitschrift des ökumenischen Hospizdienstes Rheingau e.V.
- 2020: „Der blaue Himmel über Corona – ein Tagebuch“ https://www.bod.de/buchshop/catalogsearch/result/?q=susanne+wirtz
- “ Im Rückspiegel der Erinnerung– ein Abschied“ (unter dem Pseudonym Annette Fabry) https://www.bod.de/buchshop/catalogsearch/result/?q=annette+fabry
- Lesungen im Freien Werkstatt Theater Köln
- 2008-2010: Beiträge zur Tribüne – Zeitschrift zum Verständnis des Judentums – zu den Themen jüdische Autoren in Deutschland, Wissenschaftsnation Israel und Antisemitismus in Europa
Zum Broterwerb und doch mit Freude ist sie seit 2016 als Jobcoach für Migranten und Flüchtlinge tätig.
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