M O N   A M O U R

Daniel Mylow für #kkl15 für „Nähe“




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Die Fliege verharrte regungslos auf der Ablage vor der Frontscheibe. Ihr schwärzlich-blasses Spiegelbild zerstob in einem plötzlichen Schwall von Wasser und Lauge. Ein Wink, ein Ruck. Von unsichtbarerer Kraft geschnürt bewegte sich das Fahrzeug in den gläsernen Tunnel. Dreieinhalb Minuten Spülgang weiße Zauberwelt.

Der Handelsvertreter Tomayr beugte den Kopf. Das Summen des Insekts war ganz nah. So rätselhaft nah, traurig-grauer Rauch am Rande seines Fühlens. Wolken seine Lippen so so weich. Die Frau lächelte ihn an. Wahrscheinlich lächelte sie immer. Das gelbe Fasergeflecht der Walzen kroch über Plastik und Bleche. Wasserfontänen prasselten wie aus dem Nichts auf die Scheiben. Nur die durchsichtige Haut des Glases schützte ihn vor der feuchten und laugigen Wärme. Er spürte die Hand der Frau an seiner Kleidung. Ihr schuppiger Griff spannte, wurde hart. Er flüsterte etwas von dreieinhalb Minuten, Präzision und dem Recht hinsichtlich vollkommener Erfüllung seiner Wünsche. Sie lächelte. Ihr Stöhnen verbat er sich. Sein Blick wurde stumpf, fiel und verschlief über dunkler Wärme den Augenblick.

Ein Lichtspalt. Wieder näherten sich die Walzen. Heißer Dampfstrahl zischte am Blech. Er zog einen Geldschein aus den Päckchen in seinen prall gefüllten Innentaschen. Sie nahm ihn mit spitzen Fingern, gerundetem Blick. Strähnige Fasern leckten mit saugenden Bewegungen den Wasserfluss. Fleischiges Gelb hatte die Fenster überwuchert. Es war dunkel, die Berührung ihrer Lippen unvermutet. Ein feuchter und kühler Hauch auf Lidern und Nacken. Nicht mehr als die ungefähre Berührung eines Insekts. Er wehrte sich nicht. Windgebläse rissen und zerrten an den Wasserlachen. Die dunkle, sanfte Reibung gummierter Stoffe glitt schattenhaft über das Wageninnere, schlürfte Tropfen und entfliehende Rinnsaale vom Blech.

Das Fahrzeug wurde ausgespien. Es wartete unter dem großen grauen Rand des Himmels. Ein grünes Leuchtband forderte unverzügliches Anfahren. Der lack glänzte metallen und von Schmutz befreit. Die hervorquellenden Augäpfel des Handelsvertreters Tomayr blickten, wie immer wenn sie nicht weiter wussten, ein wenig hilflos. Zähflüssig rinnender Speichel schwamm unter dem aufgerissenen Lippenwulst. Das Summen eines Insekts schlug den triumphierend stummen Takt.




Daniel Mylow, 1964 geb. in Stuttgart, Aufenthalte in Düsseldorf, Hannover, Berlin, Krefeld. Studium in Bonn und Marburg. Ausbildung in Kassel. Oberstufenlehrer in Hof und Wernstein, Marburg, Mainz, seit 2018 an der Freien Waldorfschule in Überlingen/Bodensee. Poesiepädagoge und Dozent für Literatur.

Letzte Publikation: Rotes Moor (Poetischer Thriller), Cocon Verlag Hanau 2017. Greisenkind (Roman) net Verlag Chemnitz 2020.

Zahlreiche Publikationen von Lyrik und Kurzprosa in Anthologien und Literaturzeitschriften. Diverse Auszeichnungen, zuletzt 2021 Lore Perls Literaturpreis (Verleihung 2022) und Bonner Literaturpreis. Kempener Literaturpreis 2017, Preis der Sparkassenstiftung Groß Gerau 2017, Merck-Stipendiat der Stadt Darmstadt 2018.





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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