Paul und Gerda – Der Kuss

Birgit Sonnberger für #kkl „Nähe“




Paul und Gerda – Der Kuss

Freitagmorgen in der Grünen Siedlung, Hausnummer 83 rechtes Hochparterre, nach vorne raus. Hier wohnen Gerda und ich schon seit über 50 Jahren. Wir sind wie jeden Morgen am Ende des Frühstücks beim zweiten Kaffee und der Tageszeitung angelangt. 

„Du hast mich schon lange nicht mehr geküsst.“ Ihre Worte schießen quer über den Tisch zu mir rüber.

Der Stich trifft mich unerwartet. Sehr heftig.  Ich falte die Zeitung zusammen, langsam und sorgfältig, bevor ich ihren Blick erwidere. Ich lasse meine Worte beiläufig klingen.

„Wie meinst du das?“

„Naja, so wie früher eben.“

„Wann früher?“

„Du weißt genau, wie ich das meine, auf den Mund. So richtig. Seit ich krank bin, küsst du mich nicht mehr.“ Ihr Blick in meine Augen ist kurz. Unsicher. Dann greift sie nach ihrer Tasse. Ich sehe wie ihre Hand dabei zittert.

Gerda hat recht. Ich mag sie nicht mehr küssen. Nicht auf den Mund. Lieben ja. Aus vollem Herzen. Doch ihre Lippen sind trocken, ihr Atem riecht – nach Verwesung.  Seit einiger Zeit frage ich mich, ob Organe in einem Körper verfaulen können.  Ich schäme mich, aber ich kann nicht anders, ich ekel mich davor, meine Gerda auf den Mund zu küssen.

„Gerda, wir sind keine zwanzig mehr. Es hat sich ausgeküsst.“ „Ich sehe es dir an. Du lügst, du traust dich nur nicht, mir den wahren Grund zu sagen.“ Alles in meiner Brust zieht sich beklemmend zusammen. Dumpfes Herzklopfen. Ich habe Gerda selten belogen, ein bisschen mal was weggelassen. Mehr nicht. Jetzt muss ich stark sein und mich überwinden, ich darf sie nicht enttäuschen.

Ich sehe auf, gehe um den Tisch herum zu ihr hinüber und lege meine Hand in ihren Nacken.

„Gerda, mein Täubchen, komm her.“ Ich beuge mich vor, halte den Atem an und drücke meine Lippen vorsichtig auf ihre. Völlig unerwartet lugt ein quicklebendiges Erbeben aus der Angst vor dem Todesgeruch hervor, breitet sich in mir aus und überträgt sich auf Gerda. Und da ist er, ein heftiger Kuss wie früher, mit dem Bouquet von Gerda, Kaffee und Toast, begleitet vom ungewohnten Beigeschmack nach Medikamenten.

 So kann der Tod nicht schmecken. Nein. So schmeckt Liebe.




Birgit Sonnberger

Dipl. Soz. Pädagogin

Coach für Transaktionsanalyse

Geschichtenschreiberin

1962 in Oberhausen geboren, lebte sie in Düsseldorf, London, Mönchengladbach, Kaldenkirchen und Moers. Seit 2010 ist sie in Bergisch Gladbach beheimatet.

Rheinisch katholisch, mit schwäbischem Einschlag sozialisiert sind ihre Texte atmosphärisch dicht, leise oder frisch und manchmal herzbeutelnd traurig.

Der Leser findet sie seit 2005 in verschiedensten Anthologien und Zeitschriften.

Veröffentlichungen aus den letzten Monaten

02/22 – Der Darßer / „Das Meer in mir“

01/22 – Ausschreibung Rückenwind / Anthologie und Social Media. / „Paul und Gerda – Eine   

Frage des Abgangs“                                                                                                                                

01/22 – 889 FM Kulturradio / Literatur zwischen den Jahren / Szenen von „Paul und Gerda“

12/ 21 – Baltrum Verlag / Anthologie Besondere Zeiten/ „Am Tresen“

11/ 21 – Feuilletonmagazin zugetextet.com Blog de./ „Ruf der Wildgänse“

08/21 – Kölner Stadtanzeiger/ „Ich dachte ich hätte ihr verziehen“ 

06/21 – Einer der Gewinnertexte Diakonie Stetten / Baden-Württemberg / Ausschreibung

Heimat / „Kohlsuppe“

Ihre Stimme war und ist zu hören im Scylla Verlag in Bergisch Gladbach, und in Zusammenarbeit mit Stefanie Spickhofen, Lauschlaune und dem Programm „Muscheln im November“, im Rahmen der Leverkusener Buchwochen LEVliest!





Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

3 Kommentare zu „Paul und Gerda – Der Kuss

  1. Kurz, treffend, berührend. Ein großes Thema wird hier angesprochen – dem wir eigentlich gerne aus dem Weg gehen würden.

    Like

  2. So eine Liebe bis in das hohe Alter, das würde mir auch gefallen. Ich glaube, das ist heut zu Tage immer seltener.
    Ich habe von Paul und Gerda im Radio Beitrag Uff die Ohren auch schon mal was gehört.
    Die Geschichten gefallen mir sehr.

    Like

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: