Wolfdietrich Jost für #kkl15 „Nähe“
Das Streichkonzert
Gestern wurde in der Philharmonie ein Streichkonzert gegeben, das Streichkonzert mit dem Paukenschlag, ein Höhepunkt der diesjährigen Konzertsaison. Ich war in diesem Konzert, es war ein Musikerlebnis, das mich nachhaltig berührt hat. Noch nie haben mich Melodien so tief ergriffen. Ich fühlte mich gelöst, gleichsam schwebend und abgehoben vom alltäglichen Leben mit seinen Nöten und Besorgnissen.
Das Echo in der Presse war überwältigend, Lob in den höchsten Tönen. Vor allem die Kritiker der Wirtschaftspresse überschlugen sich vor Begeisterung.
Die Wirtschaftspresse? Wieso gerade die?
Sicher. Es spielten doch die exzellenten Streicher der großen deutschen Unternehmen. Alle Dax-Unternehmen waren bei diesem Stellenstreichungskonzert vertreten: Siemens, Thyssen-Krupp, Lanxess, Continental und wie sie alle heißen, die ganze Dax-Hierarchie von oben bis unten und von unten bis oben. Der eine Betrieb streicht über 1000 Stellen, der nächste über 2000 Stellen und die höchsten Streichertöne dieses Konzerts waren besonders wohlklingend, sie erreichten über 10000 Stellenstreichungen. Und dann der fulminante Paukenschlag dieses Konzertes, ein bisher kaum gehörtes Klangerlebnis, ausgeführt von Thyssen Krupp: mehr als 12000 sollen von diesem Unternehmen gestrichen werden.
Die großen Solisten der deutschen Wirtschaft waren alle vertreten. Kein Wunder, dass die Wirtschaftspresse solch jubelnde Töne fand. Siemens, das Unternehmen, das die Geigen und Bratschen des Streichkonzertes hervorragend spielte, machte sie weltweit hörbar. Siemens ist schließlich ein global Player und das heißt auch ein global Streicher. Die erste Geige in diesem Konzert spielte René Benko, der konzertante Immobiliengeiger von Karstadt-Kaufhof. Dieser Streichkonzertmeister streicht gleich ganze Filialen mitsamt zigtausender Mitarbeiter, und das war wohl nicht der letzte Geigenstrich von Immobiliengeiger Benko.
Die Celli, gespielt von den Banken, einmalig, in den höchsten Tönen unübertroffen. Deutsche Bank, Commerzbank, Hypovereinsbank, selbst die deutschen Sparkassen, sonst nur bieder eingeschätzt, erreichten kaum vorstellbare Tonhöhen bei ihren Streichungen. Filialen um Filialen streichen die Banken, zahllose Mitarbeiter natürlich gleich dazu.
Die Kontrabässe, selten so wunderbar gehört, gespielt von EON, RWE und anderen Energiekonzernen -konzerten. Sie lassen sich in Steichungstönen kaum überbieten. Selbst ein Unternehmen wie der Otto-Versand ließ es sich nicht nehmen, bei diesem Konzert mit der Klarinette mitzuflöten.
Das Konzert dauerte ungefähr 90 Minuten. Mit minutenlangen stehenden Ovationen bedankte sich eine begeisterte Zuhörerschaft. Der Chef des Wirtschaftsressorts vom Handelsblatt schrieb anderntags: Solch ein herrliches Streichkonzert muss wiederholt werden, nicht nur einmal, es sollte ins Programm übernommen werden.
Also ein denkwürdiger Abend. Nie gekannte Höhen des Streichens und des menschlichen Erlebens wurden erreicht. Der Widerhall dieser Töne war an der Börse zu hören und führte zu einem ungeahnten Aufschwung der Aktienkurse. Je besser die Streicher, desto höher die Kurse. Eine harmonische Verbindung von Kunst und Börsenaufschwung. Nicht nur Musikliebhaber waren begeistert, auch die Aktienbesitzer. Gibt es eine gelungenere cultural-economic partnership? Sicher nicht.
Es bahnt sich eine Wende in der Gesellschaft an. Die Freisetzung von Mitarbeitern wird jetzt zu einem kulturellen Phänomen. Enthoben der platten Arbeitswelt früherer Zeit, da war immer nur von Kündigung, Entlassung, Arbeitslosigkeit und ähnlichen linguistischen Fossilien die Rede, nun das ist jetzt vorbei. Jetzt geht es um Kultur, um Freisetzungskultur, wie es in den Medien heißt. Es geht um eine neue Freiheit im Rahmen unserer freiheitlich-kulturell kapitalistischen Grundordnung. Unsere ökonomischen Konzertstreicher haben schon gezeigt, welche Freisetzungen möglich sind. Jetzt müssen den Streichkonzerten der Unternehmer Freiheitslieder zur Seite treten, etwa „Brüder zur Sonne zur Freiheit“. Kulturelle Freisetzung ist gefragt.
Die kulturell Freigesetzten sind dieser neuen Freisetzungskultur aber noch nicht gewohnt. Diese Kultur müssen sie noch lernen. Das soll der neue Freisetzungs-Coach leisten. Das ist sicher keine leichte Aufgabe. Der Freisetzungs-Coach muss bei dieser Aufgabe zum Freiheits-Coach werden. Ein großes Ziel. Die freigesetzten Arbeitnehmer waren der Freiheit allzu lange entwöhnt. Sie wollten und suchten immer nur die Nähe zur Arbeit im Betrieb. Betriebsnähe ging ihnen über alles. Einmal entlassen aus der Sicherheit des Betriebs reagierten sie zunächst mit Frust und Erbitterung. Dem Freisetzungs-Coach zeigten sich hier die typischen Merkmale von Trennungsschmerz wie bei langjährigen Ehepartnern. Hier geht es nicht mehr um ökonomisch-soziale Sicherheit, sondern um die Bewältigung psycho-mentaler Probleme. Genauer gesagt um die Formung eines neuen Freisetzungsbewusstseins in unserer Freiarbeitsgesellschaft. Der Freisetzungs-Coach formulierte daher: Freiheit ist immer auch Neuaufbruch aus Unfreiheit, gerade auch aus betrieblicher Unfreiheit. Das neue Freiheitsbewusstsein stellt sich bei den Freiarbeitern nicht von selbst ein. Der Coach muss die Freiarbeit für die Freigesetzten als ein kulturelles Erleben erfahrbar machen. Er muss sie fragen lassen: Was habe ich bisher eigentlich geleistet?
Bisher war ich doch eher eine Betriebslast. Ich habe nur an Lohn und Überstundenvergütung gedacht, an Urlaub und an Tariferhöhung und damit den Unternehmensgewinn belastet. Das ist typisch für unsere Ego-Gesellschaft. Jeder denkt nur an sich, kein commitment.
An dem kulturellen Freisetzungserleben muss der Coach hart arbeiten. Und den grandiosen Höhepunkten des unternehmerischen Streichkonzertes muss und soll ein kultureller Freisetzungshöhepunkt zur Seite treten. Da bietet sich unserem Freisetzungs-Coach Friedrich Schiller an. Dem Coach muss es gelingen, die Freigesetzten, also die Freiarbeiter, Schillers Rütlischwur aus vollem Herzen schwören zu lassen:
Wir wollen sein ein einig Volk von Freigesetzten,
In keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein wie die Väter waren,
Ganz frei von Arbeit und auch frei von Lohn.
Eher den Tod als in der Arbeitsknechtschaft leben.
Dieser Rütlischwur ist das große Ziel des Freiarbeiter-Coaches.
Wird er es erreichen?

Jost, Dr. Wolfdietrich
Nach dem Studium der Geschichte und Germanistik zunächst einige Jahre als Lektor im Archiv einer Tageszeitung tätig, dann als Wissenschaftler im Hochschuldidaktischem Zentrum (HDZ) der Universität Essen. Schwerpunkt in Forschung und Lehre: Berufsbildung und Berufsbildungsgeschichte. Zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen, zahlreiche bildungspolitische Arbeiten, vor allem für den Rundfunk.
Literarische Veröffentlichungen.
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