André Hénocque für #kkl15 „Nähe“
Hundewetter
Der Morgen war kalt und windig. Ihr Atem begleitete sie als Wolken, die kurz in der Luft verharrten bevor sie weggeweht wurden. Es war noch dunkel, denn nur wenige Lampen beleuchteten die Wege des Parks, der zu dieser Zeit menschenleer war. Genau das hatte sie gesucht. Jeden Tag kam sie hierher um den Spaziergang zu machen, der sie um den Seeführte, die kleine Anhöhe hinauf zu der Birkengruppe und wieder zurück bergab zum offenen Eingangstor, dessen kunstvolles Rankenwerk eine Meisterarbeit des Jugendstils verkörperte. Sie hatte Kunstgeschichte studiert. Daher erfreute sie sich an diesem Kunstwerk, das die meisten anderen Besucher kaum oder nicht beachteten. Mit ihrer rechten Hand zog sie eine Rundung nach und verließ den öffentlichen Park. Dieses Ritual geschah jeden Morgen zur gleichen Zeit und in der gleichen Abfolge. In ihrer Wohnung angekommen setzte sie die Kaffeemaschine in Gang bevor sie noch den Mantel auszog. Für die Bereitung der einzelnen Tasse benötigte es nur wenige Augenblicke, die sie dazu nutzte eine Strickweste überzuziehen. Sie war sparsam. In allem, denn es musste sein. Die Heizung arbeitete mit einem Minimum an Energie, da die Raumtemperatur die eingestellten 17 Grad nicht überstieg. Das reichte ihr. Als Single konnte sie bestimmen wie ihr Lebensbereich aussehen sollte.
Den Kaffee trank sie in kleinen Schlucken und schlürfte dabei ein wenig. Sie wusste, dass es sich nicht schickte, aber das Vergnügen war es ihr wert. Sie hatte nicht immer allein gewohnt, war sogar verlobt, dann verheiratet gewesen. Nur Kinder waren ausgeblieben. Sie erinnerte sich nicht mehr obdies absichtlich oder zufällig erfolgt war. Zumindest in der Anfangszeit ihrer Ehe hatte sie versucht schwanger zu werden. Später war sein Verhalten nicht mehr dazu angetan gewesen etwas Dauerhaftes und Gemeinsames zu schaffen. Automatisch fuhr sie mit der Hand über ihren Kopf um entlang der Narbe zu fahren, die aus dem Zusammenprall mit dem Küchenschrank stammte, der ihren Sturz nach einem gezielten Schlag jäh unterbrochen hatte.
Sie hatte ihren Kaffee genossen und ging zum Schreibtisch, der voller Manuskripte darauf zu warten schien sie bei ihrem Arbeitsbeginn begrüßen zu können. Sie war Lektorin in einem kleinen Verlag und arbeitete selbständig von zuhause aus. Jede Woche kam ein Bote mit neuen Elaboraten von wirklichen oder vermeintlichen Schriftstellern, die sie auf Herz und Nieren prüfte. Auf gleichem Weg verließen die lektorierten Exemplare ihre Wohnung. Der Bote wusste, nachdem sie den Versuch eines Gesprächs barsch beendet hatte, dass der Kontakt sich auf Begrüßung, Übergabe und Verabschiedung beschränken sollte. Dabei genügte ein Kopfnicken. Worte waren überflüssig genau wie das Betreten der Wohnung. Er nahm den im Flur bereitgestellten Karton im Austausch mit dem mitgebrachten. Manchmal geschah es, dass sie sich nicht einmal zu Gesicht bekamen.
Menschenansammlungen oder gar Berührungen, auch wenn sie nur zufällig zustande kamen waren ihr zuwider. Dabei machte sie keinen Unterschied zwischen Fremden und Verwandten, obwohl sie nach dem Verlust ihrer Eltern noch brieflichen Kontakt zu einer Kusine hielt. Das passierte drei Mal im Jahr : zur Jahreswende und zum jeweiligen Geburtstag. Sie hatte sich auf diese Weise in ihrem Leben eingerichtet und gedachte es bis zum Tode oder zumindest bis zur Rente genau so weiterzuführen.
Der nächste Morgen brachte den Schnee, den man gern zu Weihnachten gehabt hätte, Ende März jedoch nicht mehr sonderlich willkommen war. Die feuchten Flocken flogen ihr ins Gesicht und ihr Spaziergang machte weniger Vergnügen als am Vortag. Sie ging gebeugt mit tief in die Augen gezogener Kapuze, so dass sie das schwarze Etwas auf dem Weg erst im letzten Augenblick bemerkte. Sie ließ einen leisen Schrei der Überraschung hören als sich das Tier, denn es handelte sich anscheinend um ein lebendes Wesen, wenige Meter fortbewegte. Sie blinzelte durch das Schneetreiben um besser erkennen zu können worum es sich handelt. Jetzt vergrößerte das Tier den Abstand. Sie konnte nicht sagen, ob es ein Hund oder eine Katze war. Das war ja auch unerheblich. Es gehörte bestimmt zu jemand und würde bald in sein Heim zurückkehren.
Zuhause war alles wie immer : Kaffee, Strickjacke, Schreibtisch. Trotzdem fehlte es ihr an der gewohnten Konzentration. Das schattenhafte Wesen von heute Morgen ging ihr nicht aus dem Sinn. Da gab es eine Zeit im Elternhaus. Damals hatte es eine Katze gegeben. Wie hieß sie noch gleich? Muschi, Puki, Pinki? Der Name war ihr entfallen aber eine Erinnerung an etwas Weiches, Vertrautes bemächtigte sich ihrer Gedanken. Wenn die Eltern nicht aufpassten wurde der Katze Asyl in ihrem Zimmer gewährt. Das war streng verboten und machte daher besondere Freude, wenn das geliebte Tier sich im Bett eng an sie schmiegte und vor Vergnügen schnurrte. Die Berührung des Fells, das Streicheln, die kalte Katzennase an ihrer Wange am Morgen –alles empfand sie als angenehm. Er hatte ihr diese Fähigkeit genommen. Sie war wütend aufgestanden und lief im Zimmer hin und her. Durch sein Verhalten hatte ihr Mann das Urvertrauen zerstört. Der Funken der Empathie glimmte nur noch schwach. Sie hatte sich selbst begraben. Dieser Sieg soll dir nicht gelingen. Ich will wieder mein altes Leben zurück. Ich will Gefühle spüren, mich berühren lassen, die Wärme der Zuneigung in den Augen der Menschen sehen, lieben und geliebt werden… Erschrocken hielt sie inne. Was war in sie gefahren. Der Spiegel zeigte ihr Bild mit geröteten Wangen und blitzenden Augen. Die hochgesteckten Haare waren in Unordnung geraten. Mit einem schnellen Griff löste sie ihr Haar. Wie eine Welle fiel diese Pracht nun auf ihre Schultern. Noch ist es nicht zu spät, dachte sie. Ich bin noch nicht zu alt oder verknöchert meine Sicht auf das Leben zu ändern.
Der nächste Morgen zeigte sich noch unfreundlicher als am Vortag. Der Schneefall war dichter, der Wind eisig. Sie hatte sich trotz dieser Witterung aufgemacht um den Park aufzusuchen. Sie redete sich ein, dass es wie jeden Tag sei und es ihr nur darum ging ihre tägliche Routine abzuarbeiten. In Wirklichkeit aber suchten ihre Augen nach etwas Bestimmten : dem schwarzen Schatten von gestern. Sie verlangsamte ihre Schritte und spähte durch die Schneeflocken. Ohne Erfolg. Sie verlängerte ihren Spaziergang. Ohne Erfolg.
Der Kaffee schmeckte diesmal fad. Sie nahm das Aroma nicht richtig wahr. Der Schreibtisch verlor seine Verlockung. Sie zog sich wieder an und verließ das Haus. Jetzt war es ein richtiges Schmuddelwetter. Der Wind hatte zusätzlich aufgefrischt so dass die Flocken eine fast undurchdringliche Wand bildeten.
Der Park war Menschenleer. Der Schnee war jetzt bereits über 10 cm hoch. Sie stapfte quer über die Wiesen. Dabei achtete sie weder auf die Zeit noch auf den Zustand ihrer teuren Stiefel. Sie war durchgefroren. Ihre Augen tränten. An der Nase hatte sich eine kleine Stalaktite gebildet. Wenn sie nur den Namen des Tiers wüsste, dann hätte sie rufen können. Sie war bereits zum dritten Mal ans Tor gelangt. Sie ließ die Schultern sinken. Es hatte keinen Zweck. Bei diesem Wetter war jede Suche vergebene Mühe.
Sie hatte sich gerade mit einem frischen Kaffee hingesetzt als es schellte. Es war der wöchentliche Bote. Erstaunt bemerkte er das ungewohnte Erscheinungsbild der Lektorin. Noch überraschter war er als sie ihn ansprach und ihn bat mit ihr in den Park zu gehen um nach einem unbekannten Tier zu suchen. Erst dachte er, dass sie verrückt geworden sei. Als er die Tränen in ihren Augen sah wusste er dass er nicht nein sagen konnte. Gemeinsam zogen sie zum Park. Das Wetter war immer noch scheußlich. Zu zweit ließ es sich jedoch besser aushalten. Sie hatte sich bei ihm eingehakt, denn das gehen in der angewachsenen Schneedecke wurde immer schwieriger. Nach einer Stunde waren beide nur noch Gestalten, die sich Roboterhaft bewegten und deren Gliedmaßen steif vor Kälte waren. Sie sahen sich an und auch ohne Worte wussten sie , dass keine Hoffnung auf Erfolg blieb.
Sie kehrten langsam zum Parktor zurück als der Bote aus den Augenwinkeln etwas Dunkles am rechten Pfeiler liegen sah. Es war fast vollständig vom Schnee bedeckt. Einen Moment später und die weiße Pracht hätte ihn verborgen. Er wischte den Schnee weg und hob das dunkle Bündel hoch. Es war ein Hund. Ein Mischling, hauptsächlich schwarz mit weißen Pfoten und Brusthaaren. Sie nahm ihn unter ihrem Mantel und er legte den Arm um ihre Schultern um sie zu stützen. Der Hund war schwach, abgemagert und ausgehungert. Er benötigte vernünftiges Futter und liebevolle Zuwendung. Dies bekam er jetzt doppelt, denn der Bote kam täglich vorbei. Seit der Entdeckung und Errettung des Hundes durfte er sogar die Wohnung betreten. Die Nähe, die dem Tier von seiner Herrin gegeben wurde färbte bald auf den jungen Mann ab. Wenn sie abends auf dem Sofa saßen und Fernsehen schauten, befand sich der Hund zwischen ihnen, nicht als Keil sondern als Verbindungsglied. Lektorin und Bote kamen sich näher und die Schatten der Vergangenheit verschwanden allmählich um einer Liebesverbindung Platz zu machen.
Den Findling taufte sie Proxime, das bedeutet „hier ganz in der Nähe.“
André Hénocque, Franzose, Geb. 29.08.1948 in Hagen/Westf., verh. , 3 Kinder, 5 Enkel, Rentner, früher Industriekaufmann, 1 Kurzgeschichte und 1 Gedicht publiziert.
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