Hans-Jürgen Kuite für #kkl15 „Nähe“
KRANKHAFTE NÄHE
Da sei etwas kaputt und man müsse es richten, hatte mir mein Arzt vor Wochen eröffnet und er sollte Recht behalten. Die Störung im Verdauungsapparat, die sich mir immer mal wieder und meist zu den ungelegensten Momenten mitgeteilt hatte, ließe sich mit Medikamenten nicht mehr beheben, so dass nur noch ein gezielter Eingriff die gewünschte Besserung, wenn nicht sogar die Beseitigung des ganzen Übels herbeiführen könne. Eine Operation im medizinischen Sinne also; geht da nicht manchmal mehr kaputt als heile bleibt?
Diese Frage sollte ich mir nicht länger stellen müssen, denn nach ein paar weiteren Untersuchungen, deren Ergebnisse mich letztendlich vollends überzeugt hatten, finde ich mich eines schönen Sommermorgens, im Handgepäck eine kleine Reisetasche und diverse Papiere mit Stempeln und Unterschriften, in einem dieser kargen Zimmer wieder, in denen das Beste das Fenster ist, das den Blick auf grüne Bäume und weiße Wolken freigibt – fast schon wie zuhause.
Vierundzwanzig Stunden später.
Soeben war sie bei mir gewesen, die kleine Armada von Weißkitteln, bestehend aus Ärzten, Schwestern und Pflegern, die mir herzlich und humorvoll meine Krankenakte kommentierten, sehr kurzgefasst, dafür aber bestimmt, geradeaus und ohne Umschweife. Die Operation sei gut verlaufen, Kaputtes war wieder heil gemacht, hieß es in diesem ersten Bulletin. Den Rest besorge ab jetzt das Pflegepersonal. Und der Lauf der Zeit natürlich, zwingend verbunden mit einer gehörigen Portion Geduld, die ich bitte selbst beisteuern möge.
In diesem sicheren Gefühl, nun doch gerettet worden zu sein, wende ich meinen Blick zur Decke hin, hellgelb getüncht, wie auch die Wände rings um mich herum, vor denen Stahl, Holz und gräuliche Kunststoffe, zusammengeschraubt zu Stühlen, Tischen und Betten, diese unverwechselbare Atmosphäre schaffen, die so nichts mit Behaglichkeit und Wohlfühlzone zu tun haben will.
Ein Krankenzimmer ist halt ein Krankenzimmer, mehr nicht.
Und hört man den aufmunternden Stimmen der weißen Flotte zu, mit denen sie sich an meine beiden Zimmernachbarn wandten und füllt man das nicht Ausgesprochene mit flurgefunktem und angelesenem Halbwissen auf, so offenbaren sich die wahren Probleme, die sich in den Familien meiner beiden Leidensgenossen binnen der vergangenen paar Tage als ernsthafte Schicksale ausgebreitet haben. So ganz ohne Anmeldung, völlig überraschend und nicht mehr abwendbar. Dann doch lieber die kleine Portion Unheil, die ich in dieses Haus getragen und zuvor all den Anwesenden als hochdramatisch und nahezu unheilbar verkauft hatte.
Nun ist er wieder raus, der Trupp der Fachleute, Die schwere breite Tür hat das betretene Schweigen drinnen vom geschäftigen Treiben draußen mit einem symbolträchtigen Krachen regelrecht abgetrennt. Nach Sekunden der Gedankenleere und einem halbwegs misslungenen Versuch des Einfühlens lasse ich ein paar schlecht gedrechselte Worte der höflichen Anteilnahme folgen, quittiert mit einer von Galgenhumor durchsetzten falschen Heiterkeit seitens meiner zwei Gefährten nebenan.
Die absurd es mir plötzlich erscheint, angesichts deren Arztberichte mich selbst so schwer erkrankt zu wähnen, wo sie beide doch sofort mit mir tauschen wollten!
Die folgende Nacht war keine gewesen, die man wie üblich dem Schlaf hätte widmen können. Die ständige Rückenlage, das Rein und Raus der Nachtschwester und nicht zuletzt das Mondlicht direkt in meinem Fenster haben die Zeit zwischen zehn und sechs zu einem ruhelosen Stückwerk werden lassen. So schrecke ich in der Mitte des Vormittags regelrecht auf, als zwei Pfleger ein neu bezogenes Bett in die Nische neben mir bugsieren, die sich wohl während meiner schlafbedingten Abwesenheit aufgetan haben musste. Mein Nachbar war wohl in den OP geschoben worden, während ich nachholte, was ich die Nacht über versäumt hatte.
Im Gefolge der zwei weiß Gekleideten, die das Schieben und Richten von Betten, Stühlen und Infusionsständern offenbar nicht zum ersten Mal vollzogen, schleicht sich ein älteres Paar heran. Er vorneweg, eine etwas zu klein geratene Kopie von Armin Müller-Stahl, der nicht Armin, aber Werner hieß, dahinter sie, ein fast identisches Abbild von Mutter Beimer, die sogleich die weitere Organisation übernahm, was den geordneten Einzug ihres Mannes in dieses Zimmer betraf.
Den Koffer stell ich dir hier hin, siehst du? Den Bademantel hänge ich direkt ins Bad. Hier schau, gleich um die Ecke, der zweite Haken, am ersten hängt schon was. Und deine Latschen, die stehen unterm Bett, hier am Fußende. Wo ist denn dein Kulturbeutel? Den haben wir doch eingepackt? Zielstrebig durchsucht sie den Koffer, findet den grau-weiß gestreiften Beutel sofort und hält ihn mit Siegermine in die Höhe. Hier ist er! Leg ich dir auch ins Bad, Werner, schau hier!
Ohne sich zu vergewissern, ob Werner auch wirklich schaut, ordnet sie die wichtigsten Utensilien ins Bad und in den Kleiderschrank, bis sie suchend und fragend in die Runde blickt. Nein, es war anscheinend alles getan. Nur Werner steht noch am selben Fleck am Fußende seiner neuen Bettstelle und weiß scheinbar nicht so recht, was er mit sich anfangen soll. Doch auch das lässt sich in den Griff bekommen, wie mir der unmissverständliche Gesichtsausdruck der Mutter Beimer verrät. Ein paar Anweisungen, was das Anziehen und das Richten des OP Hemdes angeht, ein paar Korrekturen am Sitz der Thrombosestrümpfe und schon liegt Werner Müller-Stahl in seinem Bett, und es wird schlagartig still im Raum.
Mutter Beimer schleicht leise zur gegenüberliegenden Wand, nimmt sich einen Stuhl und stellt ihn vorsichtig ans Kopfende, setzt sich und schaut ihren Werner liebevoll an. Der weist mit unverwechselbaren Atemgeräuschen nach, dass er längst eingeschlafen ist.
Seine OP sollte schon längst gelaufen sein, verrät sie mir im Flüsterton. Jetzt aber müssen wir noch eine Stunde warten – ist viel los hier, hatte man ihnen gesagt. Ich nicke und will irgendwas antworten, entscheide mich aber anders und drehe meinen Kopf zum Fenster hin. Ich hatte es ja hinter mir, da fällt es leicht, für ein paar Minuten dem Zug der Wolken zu folgen. Aus den Minuten wird eine Viertelstunde, eine weitere schließt sich an. Nichts außer Werners leises Schnarchen ist zu hören. Sitzt Mutter Beimer etwa immer noch auf ihrem Stuhl? War ich zwischenzeitlich auch wieder eingeschlafen? Das würde mich nicht wundern – nach dieser Nacht!
Langsam drehe ich mich herum. Tatsächlich, die Beimer sitzt immer noch auf dem Stuhl direkt an Werners Bett, ihre Hand am Arm ihres Mannes und ihr Blick auf sein Gesicht gerichtet. Ich sehe zur Decke auf. Was für eine Zuneigung, sie lässt ihn nicht allein, bleibt ganz nah bei ihm. Was für eine Liebe!
Es vergeht eine weitere halbe Stunde und die Szene verändert sich kaum. Manchmal blickt sie auf und sieht mich an. Ich nicke ihr zu, ohne damit etwas Bestimmtes ausdrücken zu wollen. Das Wort erheben will ich nicht, sie hätte es wohl selbst getan, wenn ihr danach gewesen wäre.
Ich sehe wieder zur Zimmerdecke. Irgendwie passt das alles nicht so recht zusammen, denke ich. Zuerst dieses militärische um Ordnung bemühte Verhalten und dann diese Fürsorge, diese Zuneigung, diese tiefe Liebe, die ihr förmlich aus den Augen quillt.
Die große schwere Zimmertür! Wird sie von außen plötzlich geöffnet, ist jeder, der dahinter schläft oder ruht, sofort hellwach. Das OP-Kommando tritt ein und verkündet in knappen Worten, dass Werners Stunde nun gekommen sei. Ein paar Informationen werden ausgetauscht, während Werner zaghaft seinen müden Kopf anhebt, den Mutter Beimer noch einmal zärtlich streichelt. Dann muss sie Abstand nehmen, damit der Trupp das Bett bewegen und durch die Tür manövrieren kann. Sie dreht sich um und tritt einen Schritt auf mich zu. Sie sei dageblieben, die ganze Zeit, weil der Kopf ihres Mannes ein wenig kaputt sei, eine Tendenz zur Demenz sei deutlich erkennbar. Und da könne sie ihn nicht einfach sich selbst überlassen, gerade nicht in ungewohnten Situationen wie diese hier. Sie lächelt.
Und sie käme wieder, wenn er aus dem OP zurück ist. Sie bleibe ganz in der Nähe und würde auf ihn warten.
Sie tritt durch die Tür, sagt ‚bis später‘ und nimmt ihr Lächeln mit.
Hans-Jürgen Kuite
geboren 1958
Lebt und arbeitet in Düsseldorf
Schreibt seit 20 Jahren
Eine Roman-Veröffentlichung
Veröffentlichung mehrerer Gedichte und Kurzgeschichten
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