Splitter aus Friedrichshain

Maria Orlovskaya für #kkl16 „Der freie Wille“




Splitter aus Friedrichshain

Dirks Van ist orange.
Eine helle, plättende Sonne mit schwarzen Abdrücken. Abdrücken in Form von Palmen, Urlaub, Strand. Er sitzt mit überkreuzten Beinen in der Tür seines Vans, eine Schicht orangener Sonne zurückgeschoben, die Zeichnung des Strandes verquert. Dabei dreht er sich lustige Zigaretten aus Bananenblättern. Die riechen gut, die Bananenblätter, nach bitterer Süße, weich und nussig. An denen lässt er mich manchmal schnuppern, an dem Rest der Zigaretten nie. Er hängt sie im hinteren Fenster des Vans auf, wie Vorhänge.
„Lass dir niemals den Westwind nehmen“, sagt er, nachdem er fertig gedreht hat. Er zwirbelt die Zigarette mit seinen faltig-trockenen Fingern.
„Westwind?“, frage ich.
Er schweigt und nimmt einen tiefen Zug. Über seinem Kopf klingelt ein dumpf bemaltes Windspiel, die Farbe längst versplittert.

Helga flechtet mir bunte Fäden ins Haar.
Verwaschenes Rot, strähniges Türkis, fahles Lila. Sie ist die einzige, die bei uns einen Fernseher hat. Dickbäuchig und flimmrig steht er da, lässt hecktische Animefiguren über seine Fläche springen. Helga füttert mich mit faltigen Nüssen und stacheligen Früchten. Ich versenke meine Hände in den kaffeebraunen Schüsseln und schlürfe matten Kakao aus heidelbeerjoghurtgefleckten  Tassen.
„So schöne Haare hast du“, sagt Helga.
Ihre Stimme streichelt mich mit weichen Wogen. Ich höre sie, doch kann ich keine Worte ausmachen. Ich bin bei Sailor Jupiter in der Flimmerkiste. Manchmal frage ich Mama, wo mein Papa bleibt.
Andere Kinder haben einen und es gibt auch genug Männer bei uns, die mein Papa sein könnten. Mama meint, er sei ausgezogen. Er heißt Peter und jedes Mal, wenn jemand über ihn redet, wird geschimpft. Mein Papa ist ein Rebell. Er hat sich allem widersetzt und ist gegangen.
Wenn Mama sauer auf mich ist, mache ich mein eigenes Feuer im Garten und sende ihm Rauchzeichen. Dann liege ich nachts wach und warte darauf, dass er mich abholt. Irgendwann schlafe ich ein. Am nächsten Tag ist Mama nicht mehr sauer.

Heiko spielt Gitarre.
Die Musik wächst über mir empor, sperrig und mächtig, wie ein alter Baum. An den Wänden hängen Eierkartons, die mit farbenfrohen Schlieren bemalt wurden, wie die Ölpfützen im Hof. Noch mehr Männer sind da. Hager und groß, fremd. Männer von außen. Nur einmal die Woche sind sie da. Einer hat glatte, dunkle Haut und Haare aus feinem, schwarzem Zwirn. Er kratzt mit seiner Stimme am Mikrophon. Heiko lässt mich klobige Kopfhörer in der Farbe von grauem Brei tragen um meine Ohren zu schützen.
„Kleiner Mickey-Mouse“, sagt er in der Pause zu mir. Was das heißt, weiß ich nicht.

Heute ist Fest.
Ganz viele Leute von außen sind da, stecken mir ulkig schmeckende Bonbons zu, die ich vor Mama verstecke. Heikos Band tritt auf der aus Holzkisten gebauten Bühne auf. Die Musik hüllt uns alle ein. Andere Kinder sind da, aber ich weiß nicht, was ich zu ihnen sagen soll. Jedes Mal, wenn ich Dirk sehe, hat er eine neue, rote Lackbierdose. „Maiglöckchen“ nennt er mich, „Frühlingswind“,  aber auch „kleiner Unfall“. Als Mama das hört, schimpft sie. Unfall? Ich verstehe es nicht.
Helga röstet Nüsse. Ich nehme mir beide Hände voll, warm und klebrig haften sie an meiner Haut. Ich umkreise das Fest und verstecke mich hinten bei den leeren Autos um die Süßigkeiten in meinen überfüllten Taschen zu essen. Ganz hinten ist der Zaun zum Hundepark. Ich stecke meine Füße in die Maschen des Zauns und greife nach ihm, die klebrige Masse an meinen Händen vermischt sich mit dem feinen, staubigen Rost des Zauns.
„Wo willst’n du hin?“ Dirk steht hinter mir. Ich strecke mich nach der nächsten Schlaufe.
„Keine Ahnung“, sage ich, „Weg.“







Maria Orlovskaya, geboren 1994, studierte Bioinformatik, Psychologie und Drehbuch & Dramaturgie an der Filmuniversität Babelsberg. Danach arbeitete sie in einem Arthouse Kino, als Assistenz in der Reittherapie und betrieb eine Siebdruckerei. Ein halbes Jahr war sie auf Reisen, unterwegs von einem Heavy Metal Konzert zum nächsten. Momentan lebt und arbeitet sie im größten Yogazentrum Europas, während sie jedes Jahr zahlreiche Gedichte und Kurzgeschichten veröffentlicht.

www.mariaorlovskaya.com






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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