Abend, Hügel, Wälder. Liebe

Daniel Mylow für #kkl16 „Der freie Wille“




Abend, Hügel, Wälder. Liebe

Abend

Es war, als wären sie aufs Meer hinausgetrieben. Sie verließen das Haus nicht mehr. Wenn man es jedoch recht betrachtete, konnte Dr. Hermes das Haus ja auch gar nicht mehr verlassen, seitdem sie ihn mit einem Abschleppseil aus dem Kofferraum seines Wagens in ihrem Atelier gefesselt hatte.

Das Schreiben fiel ihm nicht leicht. Auf seine jammervollen Vorhaltungen, er wüsste unter diesen Umständen nichts zu sagen, entgegnete sie nüchtern: „ Schreib oder stirb.“

Sie setzte sich in einen Nebenraum ihres Ateliers und lauschte dem Klacken der Tastatur oder seiner monotonen Stimme. Eingewirkt in eisengraues Licht, verblassten die Abendschatten scharlachrot auf dem Fenstersims. Eine Kuppel aus Dämmerung umschloss den Horizont. Diese Stunde liebte sie wie keine andere.

Sie hatte weder Triumph noch Zufriedenheit empfunden, als sie Hermes, den gefeierten Autor und Sprachvirtuosen zahlreicher Kurzgeschichten und Romane, endlich gefunden hatte. Es war ganz einfach. Am Telefon stellte sie sich als Mitarbeiterin eines großen Fernsehsenders vor, der eine Dokumentarreihe über Plagiate der Weltliteratur unter dem Titel „Der freie Wille“ plane. Hermes galt als medienverliebter Autor und war deshalb auch rasch für das Projekt zu gewinnen.

Vorgestern war er pünktlich bei ihr erschienen. Sein Kaffee enthielt eine respektable Dosis Barbiturate, die ihn, selbstgefällig auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer sitzend, alsbald in einen tiefen Schlaf versetzten.

Sie fuhr Hermes Mercedes zu einem befreundeten Schrotthändler, der gegen ein freundliches Entgelt versprach, das Fahrzeug gleich am nächsten Morgen in die Schrottpresse zu befördern.

Hermes schlief den ganzen Nachmittag wie ein Toter. Sie bugsierte seinen beleibten Körper auf eine Luftmatratze und fesselte ihn mit Handschellen an die Eisenstreben ihrer Materialregale im Atelier.

Jeden Tag setzte sie sich in der Stunde, in der ihr Sohn gestorben war, in sein Zimmer. Über seinem Schreibtisch hing seit seinem dritten Geburtstag ein Baldachin aus metallenen Figuren, halb Mensch, halb Tier, zum Sprung bereit, mit winzigen Flügeln, in dem sich Abends zu einer bestimmten Stunde die Himmelsschatten verfingen. So wie auf ihren Bildern. Sie hatte nichts im Zimmer verändert. Stapel von beschriebenen und unbeschriebenen Blättern lagen auf dem Tisch. Sein erstes Buch.

Hügel

Bis sie Hermes gezwungen hatte, alles so zu schildern, wie es gewesen war, kannte sie nur den Polizeibericht. Als sie genug Kraft hatte, das auszuhalten, fuhr sie zu dem Unfallort, ein paar wenige Kilometer von ihrem Haus entfernt, aber doch unvorstellbar weit. Auf keiner Karte mehr verzeichnet. Das tiefere Rot des Himmels. Die durchsichtige Stille auf dem Hügel, über den das Auto kam. Ohne Wurzeln, ein Gespinst

Unsterblichkeit: die Bäume. Die Wolken, der Abend, die Hügel, die Wälder.

Das ist nicht mehr hier, dachte sie, während sie sich an die Autotür klammerte, das ist schon das Jenseits.

Dort, wo ihr Exmann ein Holzkreuz in den Wiesenrand geschlagen hatte, legte sie eine Rose nieder. Eine Rose in den Farben des Herbstes. War es hier oder war es dort? Was spielt das für eine Rolle, fuhr es ihr durch den Kopf, und dachte doch daran, wie das Auto über den Hügel gerast kam, viel zu schnell, und den Radfahrer am rechten Fahrbahnrand erfasste, dreißig, vierzig Meter durch die Luft vor sich her schleuderte, auf den Asphalt warf und überfuhr, während das rote Fahrrad in den Graben rutschte. Als der Rettungswagen eintraf, lebte der Junge noch, ein paar Augenblicke lang. Unter einem weißen Himmel wie diesem vielleicht: Federhüllen, die das Gewicht der Welt trugen.

Fahrerflucht hieß es lakonisch im Unfallbericht der Polizei. Am Unfallort zurückgeblieben waren Bruchstücke eines Scheinwerfergehäuses und winzige Lacksplitter, einem blauen Mercedes einer bestimmten Baureihe zuzuordnen.

Sie wartete nicht auf die Ermittlungen der Polizei. Gleich am ersten Tag stieß sie in einer Werkstatt auf Hermes Mercedes. Ein Zufall, nicht mehr. In einem unbeobachteten Moment kniete sie sich vor den Wagen. Ihre Fingerkuppen strichen über rote Farbreste am Kühlergrill und auf der Motorhaube. Sie fand heraus, wem der Wagen gehörte. Einen Augenblick lang brachte es sie aus der Fassung, dass es eben jener Hermes war, dessen Bücher ihr Sohn immer neben seinem Bett liegen hatte. Wie verwickelt das Leben war. Sie fing an, ihn zu beobachteten.

Kaum war Hermes erwacht, konfrontierte sie ihn mit seiner Fahrerflucht. Erst stritt er alles ab, dann brach er zusammen.

Wälder

Er behauptete, das Fahrrad hätte sich in der Mitte der Fahrbahn befunden. Der Junge habe auf dem Fahrrad gelesen oder gar geschrieben. Er habe keine Möglichkeit gehabt, auszuweichen.

 Sie löste seine Handfesseln und drückte ihm ein Laptop in die Hand.

„Schreiben Sie. Schreiben Sie um Ihr Leben. Alle vier Stunden gebe ich Ihnen eine halbe Stunde Pause. Mehr nicht. Ich meine es nur gut mit Ihnen. Wenn Sie aufhören, töte ich Sie“.

Nach zwei Tagen sah Hermes erbarmungswürdig aus. Wenn er sie sah, sagte er nur diesen einen Satz: „Sie sind ja verrückt.“

Es war, als würde er langsam zerfallen.

Sie saß nebenan in der Werkstatt zwischen Metallobjekten und großflächigen Bildern, die eine Waldlandschaft in unterschiedlichen Schattierungen und Farben zeigten. Flusswälder. Baumschatten, die sich zwischen Lichtmaßmustern auflösten. Das überschattete Blau ferner Wälder. Reifbedeckte Gräser, vom Eis ummantelte Miniaturwälder.  Der Wald am Abend an der Straße über dem Hügel am Abend eines tausendjährigen Tages.

Langsam wandte sie den Blick. Seitdem ihr Sohn tot war, malte sie nicht mehr. Diese Bilder waren alle vorher entstanden.  Ihre Hände tasteten über den Metallrahmen eines riesigen Buches. Leicht gebogenes Aluminium deutete die aufgeschlagenen Seiten an, filigrane Linien Zeilen und Buchstaben. Für dich stand in ziselierten Lettern auf dem Rahmen eingraviert. Das Metallobjekt sollte ein Geschenk zum Geburtstag ihres Sohnes werden.

Dann fiel es ihr auf. Es war zu still. Viel zu still. Sie sprang auf und trat dem eingeschlafenen Hermes unsanft in die Seite. Er starrte sie aus rotumränderten Augen fassungslos an.

„Schreib, Monstrum, schreib“

Über ihren Rechner war sie mit dem Laptop verbunden. Es war erstaunlich, was Hermes zuwege brachte. In einer Art ecriture automatique schien er sich geradewegs aus der bewohnten Welt zu schreiben. Alles um ihn herum schien er aufzusaugen, wie ein um den Verstand Gekommener. Oder einer der Angst hat zu sterben. Hermes schien alle Zeitebenen zu antizipieren, virtuos die Perspektiven wechselnd, so dass er die Worte, die sie insgeheim wählte, kannte, bevor sie sie gedacht hatte, Raum und Zeit überspringend und sich verlierend wie in dunklen Sprachwäldern, um daraus doch wieder aufzutauchen wie ein Schwimmer, der den See von seinem Atem träumen ließ, ahnend, dass nur das existierte, was aufgeschrieben wurde.

Hatte er Angst?

Liebe

Nach einer Woche behauptete Hermes, das Buch sei fertig. Ein strenger Geruch ging von ihm aus, wenn sie sich ihm näherte. Seine Wangen waren fleckig gerötet und die grauen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Er klagte über Herzschmerzen und Schwindelgefühle. Sie hatte keine Veranlassung, ihm nicht zu glauben, aber sie hatte auch kein Mitleid. Sie interessierte nur das Buch.

In der Nacht las sie das ausgedruckte Manuskript. 354 Seiten, auf denen Hermes Sprache auf verschiedenen Wahrnehmungsebenen die Welt wie ein Kartograph abgesteckt hatte. In einer schockgefrorenen Prosa und intensiven Bildern wechselten lyrische Sentenzen mit rasanten filmischen Schnitten. Seine Sprache entfaltete einen surrealen Sog. Als sie das Buch ein zweites Mal las, wurde ihr klar, dass es von der Sehnsucht nach Liebe und von ihrer Abwesenheit sprach. Das hatte sie Hermes nicht zugetraut. Je schöner der Protagonist die Welt empfand, desto schwerer falle es ihm, sie darzustellen, wie einer, der aus der Welt gefallen war.  Wie einer, der es stets ein wenig zu gut meinte.

Das war etwas, das sie auch beim Malen oft empfunden hatte.

Indem er seine Ausdrucksfähigkeit entwickelt habe, habe er, so Hermes, auch seine Empfindungsfähigkeit vertieft, was es ihm fortan unmöglich mache, sich auszudrücken. Schließlich verstummt der Protagonist mit den Worten: Alles was ich will, ist, dass die Verwicklungen aufhören. Dass die Dinge mich spüren, und ich sie. Auch den Schmerz, den ich ihnen zufüge.

Sprach Hermes von seiner Schuld? , fragte sie sich.

Nacht und Sterne verschwanden unter einem schmalen Lichtkranz am Horizont. Als sie erwachte, wurden Wolken sichtbar, wie Segel, die alles in den Schatten stellten.

Sie ging hinunter, um nach Hermes zu sehen. Sein Mund stand weit offen. Seine Atemzüge waren erloschen. Sie empfand kein Mitleid.

Sie schrieb ihren Namen und den Titel Abend, Hügel, Wälder. Liebe auf das Manuskript, vervielfältigte es und schickte es an ein Dutzend Verlage.

Erschöpft arbeitete sie den ganzen Tag im Atelier, um das Geschenk für ihren Sohn fertig zu stellen. Sie schweißte, sägte und schliff, bis das Buchobjekt vollendet war. Hermes leichter gewordener Körper verschwand zusammen mit dem Manuskript ihres Sohnes in der Höhlung der angedeuteten Buchseiten. Sie verschloss das Metallobjekt mit einer dünnen Platte aus Stahl. Mit einem Lötkolben ritzte sie das, was sie nicht mehr malen konnte, in den Stahl: Eine Landschaft sanft gewellter Hügel, vom blassen Band einer Straße durchzogen. Das Zwielicht des Abends, das im Wald verschwand. Eine Welt wie auf dem Sprung in ein immerwährendes Jenseits. Das war alles.

Der Verlag zeigte sich begeistert von dem Manuskript und von der Idee, das Metallobjekt in den Mittelpunkt der Buchpräsentation zu stellen.

Auf ihren Lesungen bewahrte sie stets das gleiche Lächeln in ihrem ansonsten unbewegten Gesicht. Dahinter verbarg sie den Schatten einer Erinnerung, in der sich ihr Schmerz für niemanden sichtbar vergraben hatte.

Die Kritik feierte das Buch, dessen morbidem Charme man sich nur schwer entziehen könne, als den schönsten Liebesroman der letzten Jahre.




Daniel Mylow,   1964 geb. in Stuttgart, Aufenthalte in Düsseldorf, Hannover, Berlin, Krefeld. Studium in Bonn und Marburg. Ausbildung in Kassel. Oberstufenlehrer in Hof und Wernstein, Marburg, Mainz, seit 2018 an der Freien Waldorfschule in Überlingen/Bodensee. Poesiepädagoge und Dozent für Literatur.

Letzte Publikation: Rotes Moor (Poetischer Thriller), Cocon Verlag Hanau 2017. Greisenkind (Roman) net Verlag Chemnitz 2020.

Zahlreiche Publikationen von Lyrik und Kurzprosa in Anthologien und Literaturzeitschriften. Diverse Auszeichnungen, zuletzt 2021  Lore Perls Literaturpreis (Verleihung 2022) und Bonner Literaturpreis. Kempener Literaturpreis 2017, Preis der Sparkassenstiftung Groß Gerau 2017, Merck-Stipendiat der Stadt Darmstadt 2018





Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: