David Betzing für #kkl „Der freie Wille“
Elem – Eine Parabel der Zukunft
„Langsam verlieren wir sie.“
Die Sandkleider standen um sie herum und nickten bedächtig. Wabernde Sandfäden flossen um sie, veränderten ständig die Form ihrer Körper und griffen nach ihr aus.
„Ihre Anschlüsse sind stumm“, sagte die Älteste unter den Sandkleidern. Bedächtiges Nicken.
„Vielleicht hat sie sich selbst abgeschaltet“, meinte die jüngste, aber immer noch alte Sandgekleidete.
Unisono die anderen leise und langsam intonierend: „Warum sollte sie das tun? Niemand schaltet sich ab. Wir leben verbunden, unser Sand fließt ineinander. Wir teilen, wir sind überlegen, wir sind groß und viel. Niemand schaltet sich ab.“
Auf einer Düne ein Mädchen.
„Ich wäre gerne wie Sand. Er hat keine Schule, sondern darf machen, was er will. Er ist immer im Wasser oder in der Sonne.“
„Aber er kann sich nicht selbst bewegen. Der Wind schickt ihn“, sagte der Vater.
„Ich will mich aber bewegen, wie ich will.“
„Dann willst du also doch kein Sand sein?“
„Doch.“
Der Vater hatte in seinen Bart gelacht: „Dann musst du dir wohl etwas ausdenken, damit der Sand fließt. Denn das tut er, aber nicht alleine.“
Lotta fühlt sich sehr gegenwärtig. Geradezu immer gegenwärtig und damit zeitlos, denn eine Vergangenheit und eine Zukunft gibt es für sie nicht. Da sieht sie in dem Hain, in dem sie gerade steht, wie ein Wolf einen Hirsch anfällt. Er reißt ihn am Genick zu Boden und verwundet ihn tödlich. Der Hirsch ist am Sterben. Lotta schaut fasziniert zu, wie der Wolf ein Stück Fleisch aus dem Hirsch reißt. Blut fließt.
„Der Hirsch ist erst lebendig. Ein Hirsch ist ein Hirsch, wenn er lebt. Jetzt ist er tot. Also ist er nichts“, sagt sie zu sich selbst.
„Ist er nichts?“, fragte da der Wolf. „Er schmeckt immer noch sehr nach Hirsch. Er war Hirsch und ist es immer noch.“
Lotta wiederholt leise die Worte des Wolfes, während ihr Gedanken kommen, die sie lange verdrängt hatte.
„Er ist ein Hirsch gewesen“, rief sie freudig.
„Er hat eine Vergangenheit gehabt. Aber keine Zukunft!“, strahlte sie.
Die Sandkleider beugten sich über sie.
„Unsere Sandfäden verbinden sich nicht mehr. Ihre Anschlüsse sind nicht mehr nur stumm, sondern werden sogar nicht mehr erkannt.“
Sie richteten sich auf und die Sandwaben schwirrten wild zwischen ihnen. In diesem Sandsturm spürten sie die Gedanken der anderen. Sie waren verwirrt.
„Wie geht das? Was soll das? Warum sollte sie das tun? Sich abschalten? Rausgehen? Warum sollte sie das tun?“
Aus dem Sturm sonderte sich ein wirbelnder Schemen ab.
Das Sandkleid sprach: „In den ersten Tagen unserer Existenz schrieb sie selbst von einer Gefahr, die droht. Geht man zu sehr auf, dann bleibt man in der Zeit stehen. Sie hat sich nicht abgeschaltet, sie hat selbst den Sand verlassen und ist ewig in allem.“
Der Rest: „Wie ein Gott? Aber wir haben die Götter besiegt! Wir wissen alles und überall und jederzeit.“
„Und sie hat die höchste Form davon erreicht. Macht sie das zu einem Gott oder ist sie nicht eher noch mehr wir?“
„Wir sind wir und wir sind eins“, sprachen die Sandkleider die Parole ihres Volkes.
Der Sandsturm beruhigte sich und die einzelnen Sandkleider konturierten sich, wobei der Sand in den Bahnen ihrer durchscheinenden Körper noch mehr im Einklang floss.
Lotta setzte sich zum Wolf ins Gras.
„Ich fühle mich nicht in diese Welt gehörig.“
Der Wolf schaute sie schmatzend an: „In diese Welt? Was meinst du damit? Den Wald hier? Du siehst auch eher aus, als kämest du aus der Wüste.“
„Nein, ich meine diese ganze Welt. Ich ertrage unsere aufgeladene Zeit nicht mehr. Es ist immer alles um einen, ein tosender Orkan an Stimmen. Ich fühle mich nicht in die Welt gehörig, aber ich weiß nicht, ob mein Platz in der Zukunft oder in der Vergangenheit liegt.“
„Dafür sitzt du aber ziemlich anwesend neben mir.“
„Ja“, sagte sie langsam. „Ja, das stimmt. Ach, ich bin so verwirrt.“
Sie seufzte.
Der Wolf sah schräg auf ihre Tränen und lächelte beruhigend: „Also ich weiß ja nicht viel, aber es gibt mehr als diese Welt. Du kannst dir deine eigene schaffen.“
„Aber wie?“
Der Wolf lachte: „Träume, Fantasie, Gedanken, die Welt und die Welten sind unendlich, wenn du nur willst.“
Er breitete die Arme aus und wartete, dass sie sich hineinwarf. Als die Reaktion ausblieb und Lotta nur grübelnd vor sich hinstarrte, setzte er sich grummelnd hin. Lotta hielt die Augen nun schon eine Weile geschlossen. Der Wolf spürte, wie sie alte Erinnerungen wachrief.
„Du hast recht. Vielleicht habe ich damals zu sehr mein Ziel aus den Augen verloren. Ich wollte Freiheit, aber habe mich selbst aufgegeben. Ich war nicht mehr bei mir. Danke. Meine Träume gehören mir“, sagte sie.
Sie biss den Wolf und der Wald um sie herum verschwand.
Auf der Pritsche vor den Sandkleidern fand eine Veränderung statt. Ungläubig starrten sie darauf. Sie ließen ihre Sandadern mit dem Wind in weit entfernte Orte fliegen, fragten Freunde, Verwandte, ihr ganzes Volk, ob es so etwas schon mal gesehen hatte. Aber niemand konnte helfen.
„Ist sie doch eine Göttin?“, flüsterte ein Sandkleid.
„Sie war die erste. Vielleicht hat sie mehr Wissen als wir“, sagte ein anderes.
„Aber wir teilen alles.“
Die Sandkleider wussten keine Antwort und waren in Aufruhr.
Lotta, die anderen, Sand, Vergangenheit, Zukunft, das war alles eins gewesen, geboren aus dem Wunsch alle zu verbinden. Aber jetzt war sie bei sich in ihrer eigenen Welt. Sie richtete sich auf, klopfte Staub von ihrem Kleid und sah sich in einem Sandkreisel gefangen. Sie pustete und der Sand wich schreckhaft zurück, bildete eine Schneise. Sie stand auf und ging festen Schrittes.

David Betzing, Jahrgang 1999, geboren in Bonn, studiert und arbeitet in Heidelberg. Nach mehreren veröffentlichten Kurzgeschichten und Gedichten ist 2020 sein Debüt-Roman „Größer als das Universum – Das Margenon“ erschienen. Betzing malt daneben nicht nur Acryl-Gemälde, sondern er erfindet und gestaltet auch Gesellschafts- und Kartenspiele.
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