Barbara Schwarzl für #kkl16 „Der freie Wille“
Unterdrückter freier Wille
„Wann Sie nach Hause gehen, bestimme noch immer ich“, sagte Herr Ladentrog in messerscharfem Ton.
Keine von uns muckste auf. Stattdessen meldete sich die Schiebetür mit einem Knacksen und gab einer jungen Frau den Weg frei. Sie tauchte zögerlich ein in diese eisige Atmosphäre. Vielleicht bereute sie schon, dass sie so kurz nach Ladenschluss an die verschlossene Tür geklopft hatte. Unsere zu Salzsäulen erstarrten Körper wirkten sicher nicht einladend.
„Sehen Sie sich nur in Ruhe um“, flötete unser Chef.
Meine jungen Kolleginnen machten sich geflissentlich daran, das Geld in den Kassenladen zu zählen. Ich vernahm den metallischen Klang. Immer schwungvoller und lauter. Wie eine Prophezeiung, dass das mühevolle Tagwerk bald vollbracht sei und die Freiheit auf uns warte.
Die Kundin entsprach mit ihrem sportlichen Outfit und ihrer Jugendlichkeit nicht unserer Stammklientel. Leider schien sie keine Eile zu verspüren und nichts Bestimmtes zu suchen. Ich sah verstohlen auf meine Uhr. Wieder einmal würde meine Mutter meinen kleinen Sonnenschein zu Bett bringen müssen. Wie beinahe jeden Tag, weil ich regelmäßig viel zu spät nach Hause kam. Nach außen hin trug ich mein geschäftsmäßiges Lächeln, aber tief drinnen war ich traurig. Im Zeitraffer sah ich meine kleine Tochter zur jungen Frau heranwachsen. Ich fürchtete, irgendwann eine Fremde für sie zu sein, weil Herr Ladentrog mich immer viel zu lange hier festhielt.
Die junge Frau befühlte zögerlich den Stoff eines Sommerkleids.
„Dieses Modell haben wir erst diese Woche hereinbekommen. Die frischen Farben und der taillierte Schnitt würden Ihnen gutstehen“, versuchte ich sie mit einem warmen Klang in der Stimme zu überzeugen, in der Hoffnung, endlich nach Hause gehen zu dürfen. „Möchten Sie es probieren?“, fragte ich und deutete mit dem Kopf den Weg zur Umkleidekabine an.
Mit „Schönen Abend, Herr Ladentrog“ verabschiedeten sich meine Kolleginnen. Mir warfen sie teilnahmsvolle Blicke zu. Danach vernahm ich ihr Kichern und beneidete sie um ihre jugendliche Unbeschwertheit.
Wenig später bezahlte die junge Frau zufrieden lächelnd das Kleid. Dabei entkam mir unwillkürlich ein Seufzer der Erleichterung.
„Vielen Dank für Ihre gute Beratung und Ihre Geduld“, sagte sie postwendend.
„Ich bitte Sie, wir haben zu danken“, antwortete Herr Ladentrog statt mir. Ich sah Eurozeichen in seinen Augen auf und ab hüpfen.
Schlagartig spannte sich ihre Miene an. Die Kundin schien sich zu krümmen, als hätte sie Schmerzen. „Es ist mir sehr unangenehm“, begann sie zögerlich. Nachdem Herr Ladentrog ihr aufmunternd zugenickt hatte, bat sie, unsere Toilette benützen zu dürfen.
Herr Ladentrog zeigte ihr charmant plaudernd den Weg. Und ich machte endlich Kassaschluss. Mein Chef nahm die Belege entgegen. Dann tippte er ungeduldig auf eine geöffnete Mappe auf seinem Schreibtisch. „Was soll das hier?“
Jetzt fing er auch noch mit der Stundenaufzeichnung an. Am liebsten hätte ich laut geschrien. „Herr Ladentrog, können wir das bitte morgen besprechen?“, fragte ich stattdessen.
Im Gang hörte ich eine Tür ins Schloss fallen. Ich dachte an meine jungen Kolleginnen, die raus in die abendliche Freiheit durften. Vielleicht würden sie ohnedies bald das Handtuch werfen, wie es viele vor ihnen auch schon getan hatten. Nur ich blieb, egal wie er mit mir umsprang. Ich war Alleinerzieherin und setzte nicht leichtfertig meine Anstellung aufs Spiel. Außerhalb unserer Kleinstadt hätte ich vielleicht Chancen auf eine bessere, aber eben auch einen viel weiteren Weg.
„Es gibt sowieso nichts zu besprechen. Überstunden gibt es keine.“ Energisch strich er mein Stundenguthaben, das sich über die letzten Monate rasant angehäuft hatte, durch und kritzelte „nicht genehmigt“ hinzu.
„Das können Sie nicht machen“, entfuhr es mir leise. Ich war so perplex, dass es mir die Sprache zu verschlagen drohte.
Beide merkten wir nicht, dass sich uns jemand näherte.
Herr Ladentrog lachte schadenfroh auf. „Und ob ich das kann.“
Ich rang nach den richtigen Worten. In meinem Kopf ratterte eine Rechenmaschine. Wieviel hatte ich ihm in all den Jahren schon geschenkt? Mir wurde schwindelig von den Zahlen. Der Spaß war vorbei. Er überspannte den Bogen. In den letzten Monaten hatte ich beinahe täglich eine Stunde länger bleiben müssen.
Er beobachtete mich stirnrunzelnd, schien mich testen zu wollen. Er liebte Machtspielchen. Er liebte es, andere zu erniedrigen. Ich kannte ihn gut. Aber ich kannte meine Rechte. Hier galten sie nicht. Hier galten nur seine Regeln. Sonst nichts.
„Frau Samt, ich zwinge Sie nicht, für mich zu arbeiten. Es ist Ihr freier Wille, es zu tun“, sagte er sanftmütig.
Er beherrschte Zuckerbrot und Peitsche. Seine Worte kamen honigsüß daher. Meine nicht existenten Rechte taten weh wie Peitschenhiebe. Ich kochte innerlich, aber ich durfte es ihm nicht zeigen. „Sie wissen so gut wie ich, dass meine Aufzeichnungen korrekt sind“, begann ich.
Er sah mich ruhig an, als würde er meinen sachten Versuch des Widerspruchs genießen.
„Sie werden mir die Zeit vergüten“, sagte ich ruhig, noch unschlüssig, wie ich ihn umstimmen könnte.
„Sicher nicht!“
„Sicher doch“, antwortete plötzlich eine Stimme hinter uns.
Beide starrten wir die Kundin an. Ich hatte vorhin die Toilettentür gehört und nicht die Eingangstür, fiel es mir ein.
Herrn Ladentrog schien es die Sprache verschlagen zu haben.
„Melden Sie sich morgen bei mir, aus freiem Willen oder gezwungenermaßen, egal warum, melden Sie sich.“ Sie zwinkerte mir aufmunternd zu und überreichte mir ihre Visitenkarte.
Ich schaute ungläubig zwischen der jungen Rechtsanwältin, ihrer Karte und meinem Chef hin und her.

Barbara Schwarzl arbeitet seit Beendigung ihres Pharmaziestudiums in verschiedensten Apotheken Österreichs. Die schreibende Apothekerin hat ein Faible für Personen mit schwierigen Schicksalen, die aber mit aller Kraft für ein besseres Leben kämpfen und sich niemals unterkriegen lassen. Fasziniert von den Untiefen der menschlichen Seele widmet sie sich in ihren psychologischen Romanen unbequemen Themen, die zum Nachdenken anregen. Darüber hinaus schreibt sie gerne Reiseliteratur.
Veröffentlichungen:
„Reise quer durch Estland, Lettland und Litauen„, ein Reisetagebuch
„Alles anders. Auf Umwegen angekommen„, einen Roman über Venedig und die Normandie
„Spurensuche. Diagnose Schizophrenie„, eine Mischung aus Roman und Sachbuch „Dreierblues“, eine Roadnovel bzw. einen Reiseroman über die Dominikanische Republik „Nicht ohne meine Schatulle“, einen Roman über Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung bzw. Gewalt in der Familie.
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