Der freie Wille

Yvonne Brüntrup für #kkl16 „Der freie Wille“




Der freie Wille.

Was meinst du, wie du einen Traum von der Wirklichkeit unterscheidest? Ich taumle jetzt schon gefühlt eine halbe Ewigkeit durch einen Zustand der Unwissenheit. Ich habe keinen Schimmer, wo ich bin. Immer wieder frage ich in den stillen Raum: „Ist da jemand?“ Doch eine Antwort blieb bislang aus. Manchmal nehme ich ein Knistern wahr, ein Rauschen oder ist es eine Stimme, ganz weit entfernt von mir? Ich kann es nicht genau sagen. Plötzlich ertönt eine Stimme und fragt: „Kannst du mich hören?“ Ich zögere mit meiner Antwort. Wer weiß, wem die Stimme gehört und welche Konsequenzen meine Antwort mit sich zieht. Eine andere Stimme fragt deutlich: „Hallo?! Verstehst du uns nicht?“ Verstehen? Hören? Sehen. Augen. Ja, ich hatte Augen. Ich erinnere mich an einen See. Ich sah mal einen See. Ich antworte: „Ja, ich verstehe euch. Wo sind wir? Ich sehe nichts.“ Ich höre, wie sich die Stimmen unterhalten. Ich verstehe etwas wie „er braucht noch Zeit…“. Ich rufe: „Wofür brauche ich noch Zeit? Antwortet mir doch bitte. Was ist das hier für ein Ort?“ Stille erhalte ich als Antwort. Zu gern würde ich eine Faust ballen und mich aufregen. Was für ein Scheiß!

 Es ist viel Zeit vergangen. Oder wenig? Was spielt das für eine Rolle? Offensichtlich keine. Licht ebenfalls nicht. Weit und breit nur satte Schwärze. Ich glaube ich treibe. Langsam fange ich an, das zu genießen, was ich nicht beschreiben kann. Und dann fragt sie wieder: „Hallo! Bist du jetzt bereit?“ Die Stimme ist weiblich. Ganz klar. Ich sage: „Hallo! Ich weiß es nicht.“ Die andere Stimme lacht und sagt: „Gut so.“ Fraglos lausche ich. Die weibliche Stimme fragt: „Hast du herausgefunden, wo du bist?“ Ich antworte: „Nein.“ Die andere Stimme fragt: „Meinst du, du verkraftest zu sehen, was war?“ Diese Stimme klingt härter. Zögernd sage ich: „Ja, ich glaube schon…“

 Einen Augenblick später, blitzen Bilder vor meinem Auge auf. Ich weiß nicht, ob sie real sind oder ob ich einen Film schaue. Ich erkenne mich. Im See, kurz bevor ich taumle und ins Wasser falle. Das war es. Der See. Er war so erfrischend und dann so kalt. Ich wurde nach unten gezogen. Alles war still. Friedlich und ich war allein. So allein. Allein in diesem endlosen, blauen See. Eine tiefe Schwärze legte sich über mich. Die Schwärze, die mich immer noch zudeckt. Liege ich immer noch in der Schwärze des Sees? Doch hier ist es nicht so kalt und auch überhaupt nicht nass. Langsam sage ich: „Das war also mein letzter Moment?“ Die weibliche Stimme antwortet: „Das war das letzte, was dein ehemaliges Ich sah.“ Und dann blitzt ein Bild von mir auf. Von dem, was ich war. Einige Tage bevor ich ins Wasser fiel. Ich war auf dem Weg zu Freunden. Ich war gut drauf. Die Stimme seufzt: „Du bist nicht ins Wasser gefallen. Du brauchst dich nicht mehr selbst zu belügen.“ Ich stocke. Was spricht diese Stimme da? Sie kennt mich doch gar nicht. Wütend fahre ich aus der Haut: „Was redest du da? Sag mir endlich, wo ich hier bin. Warum ist es die ganze Zeit so dunkel?“ Die Stimme antwortet ohne zu zögern: „Damit du endlich erkennst.“

 Ich treibe immer noch in der Dunkelheit. Was soll ich denn erkennen, wenn alles dunkel ist? Eine andere Stimme antwortet: „Das was war und immer ist.“ Oh, so ein Pseudospruch wie aus einem Glückskeks. Ich lache einfach nur. Die weibliche Stimme sagt: „Du kannst dich entscheiden. Zu jederzeit. Du hast immer deinen freien Willen.“ Die andere Stimme fragt: „Bist du nun bereit anzunehmen, was war und für das was kommt, eine Entscheidung zu treffen?“ Mit zitternder Stimme sage ich: „Ich kann nicht annehmen was war. Denn es war eine Katastrophe.“ Sanft sagt die weibliche Stimme: „Du hast immer deinen freien Willen. Du kannst auch alles anders machen.“ Es platzt aus mir heraus: „Soll ich nochmal neu anfangen? Wozu denn? Das war alles so anstrengend. Alles war so verzwickt. Wie könnt ihr von einem freien Willen sprechen? Wann hatte ich den denn je?“

 Ich tauche tiefer in die Dunkelheit und die Stille ein. Ich habe den freien Willen… was für ein Blödsinn. Was für ein bescheuerter Ort, an dem ich gelandet bin. Fast genauso bescheuert, wie der Ort, an dem ich zuvor umher gewandert bin. Der freie Wille… Wann wurde uns der freie Wille abgenommen und wie verdammt nochmal, könnten wir ihn überhaupt zurück beanspruchen? Weiß nicht immer irgendjemand alles besser und entscheidet nicht immer ohnehin jemand für uns, was wir machen sollten? „Ist da draußen jemand, der meint, er besitzt einen freien Willen?“, schreie ich in die Dunkelheit. Ich warte. Eine Antwort kommt nicht zurückgeschallt. Ja, hätte ich auch nicht anders erwartet.

 Wie in Zeitlupe sehe ich, wie mein Leben vor meinem geistigen Auge an mir vorbeizieht. Alles scheint vorgeschrieben gewesen zu sein, selbst der Ablauf der Schwangerschaft und der Geburt. Mit grellem Licht, wurde ich in einer kalten und lauten Umgebung begrüßt. Kaum in den Armen meiner Eltern, waren die nur noch beschäftigt Formulare und Zettel auszufüllen. Wozu das Ganze? Mein freier Wille war es nicht, schon mit 3 Jahren in den Kindergarten zu gehen. Ich weiß noch genau, dass ich nicht dorthin wollte. Resignierend habe ich irgendwann aufgehört mich zu beschweren. Es hat doch ohnehin keinen interessiert. Der restliche Ablauf meines Lebens hinsichtlich Schule und Studium scheint wie eine Verlängerung meiner damaligen Eingewöhnungszeit zu sein. Zu nichts hatte ich mich wirklich frei entschieden. In der stummen Hoffnung, irgendwann würde einer erkennen, was in mir steckt, hatte ich mich angepasst und brav mitgemacht. Doch nie lernte ich einen Menschen kennen, der wirklich in mein Innerstes geschaut hat. Immer wurde ich nur auf eine meiner Rollen reduziert. Rollen, die mir aufgezwungen wurden und auch Rollen, die ich mir selbst ausgesucht hatte. Ich war das Wunschkind, der perfekte Schüler, der unsportliche Clown, wurde dann zum Anführer einer kleinen Gang, war dennoch der Klassenbeste und vor meiner Begegnung mit dem See, war ich kurz davor, der Jahrgangsbeste in meinem Jurastudium zu werden. Alles wirkt rückblickend, wie in einem Drehbuch.

 Doch wenn wir alle in einem großen Theaterstück auftreten und unsere Rollen ausführen, dann sind wir doch nur noch Personen. Träger von Rechten und Pflichten, die Rollen beleben, meist unbewusst, selten bewusst. Eng fühlte sich das Leben an, in dieser Welt, in der so viel Platz zu sein scheint, und doch wurde ich erdrückt, von dem, was mir den freien Willen geraubt hat. Überall waren Menschen, die es ja nur gut mit mir meinten und ebenso viele Menschen, die ganz eigenen Interessen folgten und mich einlullten mit weiteren Plänen, wie mein Leben besser verlaufen sollte. Und inmitten all dieser Fiktionen, verfing ich mich. Was bleibt dann noch vom freien Willen? War es mein freier Wille, wenn ich unterschwelligen Botschaften folgte?

 Ja, es war mein freier Wille in den See zu springen. Also bin ich tot? Ich muss einräumen, dass ich wohl einen freien Willen habe. War das wirklich meine erste und einzige Entscheidung, die meinem bewussten freien Willen entsprang? Ein lautes, zufriedenes Lachen erklingt und eine tiefe Stimme sagt: „Gute Erkenntnis. Tatsächlich hast du schon zuvor eine bewusste Entscheidung getroffen. Es ist schon lange her. Es war dein freier Wille, der dich zu deinen Eltern brachte.“ Verbissen denke ich nach, doch diese Erinnerung bleibt mir verwoben. „Bei unserer letzten Unterhaltung, hast du sie gewählt.“, erklärt die weibliche Stimme.

 Ich suche mir aus, wo ich starte? Von Anfang an ist es mein freier Wille? Der Gedanke gefällt mir. Hätte ich das doch nur vorher gewusst. Vielleicht wäre die letzte Entscheidung, die ich getroffen hatte, dann doch anders verlaufen. Die feste Stimme spricht leise: „Du strebst wie jedes Bewusstsein nach Wachstum und Erweiterung.

Du suchst dir deine Eltern aus, deine zukünftige Familie. Genau da, wo sie sind, mit dem, was sie dir bieten können. Es dauert lange, bis du mit deinem Bewusstsein begreifst, welches Geschenk sie dir mit ihrem Sein bieten. Sehr lange mitunter. Doch erst dann bist du in der Lage, richtig zu wachsen. Denn du musst dich erst vollständig von ihnen lösen, um in der Lage zu sein, deinen freien Willen aktiv auszuleben. Denn in den ersten Jahren folgst du blind ihrem Willen. Und sie entscheiden immer nach ihrem Wissensstand und zu jederzeit nach besten Gewissen.“ Ich entscheide also auch dann, wenn ich nicht sprechen kann, frage ich mich im Stillen. Die feste Stimme antwortet: „Ja. Du entscheidest auch, auch wenn du noch nicht sprechen kannst. Es mag sein, dass manch ein anderer deinen Willen bricht. In dem Moment, in dem jemand deinen freien Willen bricht, entscheidest du, wie du darauf reagierst. Das formt deinen Charakter und ebnet deinen weiteren Weg. Wirst du alles in dich hineinfressen oder wirst du dich auflehnen? Jede noch so banale Entscheidung und Antwort, die du darauf erhältst, wird weiter deinen Weg ebnen. Du musst immer bedenken, alles ist miteinander verbunden.“

 Einen Moment zögere ich, doch dann sage ich: „Wenn wir alle miteinander verbunden sind, dann gibt es doch keinen richtigen freien Willen. Wir stehen doch dann zu jederzeit in Abhängigkeit zueinander. Wie kann ich dann von einem freien Willen sprechen?“ Die weibliche Stimme antwortet: „Ja, ihr steht alle in Abhängigkeit zueinander. Und doch erreicht ihr irgendwann den Punkt, an dem ihr euch voneinander befreien könnt. Dann kannst du deinen freien Willen voll ausleben. Das beinhaltet möglicherweise auch, dass du dich, von all den Menschen, die dir zu dieser Zeit nahestehen, zurückziehen musst. Wachstum beinhaltet Veränderung. Veränderung beinhaltet nicht unbedingt, dass du ständig in deiner Komfortzone bleibst. Das kann eine Zeit der Schwärze und der tiefsten Einsamkeit sein. Eine Zeit, in der du dich in einem Raum bewegst, der dich vollkommen in Dunkelheit einzieht.“ Ein greller Lichtblitz blendet mich. Ja, ich habe einen freien Willen. Ich weiß nicht wie, doch ich fühle mich plötzlich verbunden, mit einem tiefen Wissen. Viel tiefer und mächtiger, als alles, was ich zuvor gespürt habe. Ich weiß, angewandtes Wissen ist das einzig wahre Wissen. Ich will zurück in den See. Ich will das Wissen, was mich schon immer erfüllt hat, anwenden. „So soll es sein“, sagen die zwei Stimmen gleichzeitig.

 Ich spüre Boden unter mir. Ein sanfter Wind weht über mich. Meine Kleidung ist nass. Ich liege halb im Wasser. Alles ist still und ich höre nur ein gleichmäßiges Plätschern. Der See! Ich taste mit meiner Hand. Der Sand ist rau, nass und kalt. Vorsichtig öffne ich meine Augen. Sanftes Licht umgibt mich. Es scheint früh am Morgen zu sein. Ich setze mich auf. Ich fahre mit der Hand über mein Gesicht und streiche durch meine nassen Haare. Mein Blick streift über den See. Dann erinnere ich mich, an das Gespräch. War es ein Traum? Ich fasse mit meiner Hand nochmal durch den Sand. Ist das die Wirklichkeit? Es fühlt sich real an. Doch dieser Raum in der Dunkelheit, war er nicht auch real, obwohl ich nichts fühlen oder sehen konnte? Ich schüttle lächelnd den Kopf und stehe auf. In der Ferne sehe ich die ersten Sonnenstrahlen, die über die Baumwipfel den Beginn des neuen Tages ankündigen. Langsam laufe ich am Ufer entlang.

 Alles riecht anders. So intensiv und wild. Bin ich mir zum ersten Mal in diesem Leben, meinem wahren Selbst bewusst? Ich fasse einen Baum an, streichle über das hohe Gras und atme tief die süßliche Frühlingsluft ein. Durch meine nasse Kleidung fröstle ich. Ich genieße das Gefühl der Gänsehaut auf meinem Körper. Ein Mann mit seinem Hund begegnet mir und ruft: „Guten Morgen. Na, eine feuchte Nacht erlebt?“ Ich nicke ihm freundlich zu. Ein Mensch, ein Verbündeter, ich akzeptiere ihn, wie er ist und begegne ihm ohne Bewertung. Er schüttelt den Kopf und fragt: „Bei der Kälte bist du freiwillig in den See gesprungen? Hast du etwa eine Wette verloren?“ Ich lache und rufe: „Nein, es war mein freier Wille.“




Yvonne Brüntrup

Die Verfasserin ist am 02.08.1985 in Oberhausen geboren und hat noch keine Texte oder Bücher veröffentlicht.

Seit der Geburt ihres Sohnes und ihrer Tochter, hat sie ihre Liebe fürs Schreiben wiederentdeckt und widmet sich seither in jeder freien Minute dem Erschaffen von Geschichten und Erzählungen.

Dieses Gebiet fesselt sie insbesondere, denn es sind die phantasievollen, bedürfnisorientierten, gewaltfreien Geschichten für kleine Träumer, die wir alle brauchen. Viele alte Werke sind sehr altbacken und überholungsbedürftig. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass wir Eltern von heute in einer Be-ziehung zu unseren Kindern statt in einer Er-ziehung leben sollten.

Auf dem Weg einer intensiven Arbeit mit ihrem Selbst und ihrer inneren Welt, konnte sie sich stark verändern und verfasste ihr erstes Manuskript, welches aktuell in der Korrekturphase ist. Hierbei handelt es sich um ein Sachbuch hinsichtlich emotionaler Essstörung.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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