Marcus Straßer für #kkl16 „Der freie Wille“
Ein abendlicher Spaziergang zum freien Willen
Heute soll es also die Frage nach dem freien Willen sein.
Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, von Zeit zu Zeit eben solche bewegenden Fragen zu durchdenken.
Dabei weiß ich durchaus, dass schon unzählige vor mir Antworten gefunden haben – Aber das spielt keine Rolle.
Es ist wie ein Spiel, ein Rätsel, das ich allein lösen möchte.
Und wenn ich nachdenken muss, gehe ich durch die Altstadt.
Das war schon immer so.
Die alten Läden und Pflastersteine beruhigen mich wohl.
Also gehe ich auch heute.
So wie früher die Philosophen in ihren Cafés saßen und eben solche Themen diskutierten, wandere ich nun durch die engen Straßen und diskutiere sie mit mir selbst.
Aber zunächst schlendere ich nur durch den hohen Bogen der Stadtmauer, direkt zum bunten Eisladen an der Ecke. Es ist heiß und während ich mich in die Schlange eishungriger Menschen einreihe, erinnere ich mich an die heißen Tage meiner Kindheit, an denen mein Vater mir genau hier ein Eis spendierte. Zwei Kugeln Schokolade. Jedes Mal.
Ich grinse kurz.
Der freie Wille.
Der freie Wille, eine Sorte Eis zu wählen.
Kann es so einfach sein?
Wenig später schon stehe ich vor dem alten Buchladen. Ich kann ihn zunächst nicht betreten, da ich in meiner Hand noch immer das dunkle Schokoladeneis trage. Also warte ich geduldig vor dem Schaufenster und betrachte die wenigen Bücher, die dort ausgestellt sind.
Und denke nach.
Immerhin bin ich deshalb unterwegs, nicht wahr?
Was gibt es sonst über den freien Willen zu sagen?
Vielleicht war es ein unnötiges Thema?
Ich könnte jetzt dieses Buch dort über Kuchen und Torten kaufen oder diesen wuchtigen Band über juristische Fragen.
Ich könnte, wenn ich wollte.
Aber natürlich will ich nicht.
Ich konnte noch nie backen und rechtliche Themen haben mich seit jeher zutiefst gelangweilt.
Also halte ich kurz darauf wieder Ausschau nach antiken, brüchigen Wälzern, die wie immer hinten unbeachtet in einer großen Kiste liegen.
Der Besitzer nickt mir freundlich zu. Er weiß genau, wonach ich suche.
Aber heute ist hier nichts.
Ich kann mich auch nicht so recht konzentrieren.
Er ruft mir noch hinterher, dass er vielleicht später noch etwas für mich hätte, aber ich stolpere schon weiter.
Vermutlich liegt es an der Hitze.
Der freie Wille lässt mich wählen. Bleiben oder gehen. Links oder rechts. Kuchen oder Recht. So einfach ist das doch.
Genau in diesem Moment erreiche ich eine Kreuzung und bin entzückt von diesem ganz offensichtlichen Beispiel einer freien Entscheidung.
Rechts führt die Straße in eine enge und zu dieser Tageszeit dunklen Gasse, in der ich die bunten Schilder und Fahnen einiger Modegeschäfte und kleiner Cafés sehe.
Links weitet sich der Weg und die Pflastersteine weichen drögem Asphalt. Hier liegen Ämter und teure Restaurants, deren Schwarz und Gold nicht so recht zu dem alten, grauen Stein der Altstadt passen wollen.
Hell oder dunkel?
Bunt oder gold?
Ich habe die Wahl.
Die freie Wahl.
Mein Wille entscheide.
In diesem Moment sehe ich am Tisch eines der kleinen Cafés einen alten Freund sitzen. Er liest in einer unnötig großen Zeitung, blickt plötzlich auf, sieht mich und winkt mir zu.
Ich lächle und winke höflich zurück. Ich ärgere mich und weiß nicht einmal, warum genau.
Ich schaue ungewollt auf meine Armbanduhr, als wolle ich ihm zu verstehen geben, dass ich in Eile sei, aber dann laufe ich doch zu ihm hinüber.
Er legt lachend die Zeitung zur Seite und ich setze mich auf einen der drahtigen Stühle.
Wir unterhalten uns belanglos.
Er berichtet von seiner Arbeit. Ich höre kaum zu.
Er erzählt von einem Urlaub am See.
Ich hasse das Wasser.
Nicht Wasser an sich, aber alles was auf dem Wasser passiert, wenn es mit mir passiert.
Ich merke wie sich mein Gesicht zusammenzieht, als er von einem Schiff erzählt, von freudigem Baden und Schwimmen im blauen Meer.
Ich hasse Blau.
Seitdem wir damals fast mit diesem albernen Segelboot gekentert sind.
Ich sehe immer noch das verdammte Blau neben dem abgebrochenen Mast.
Ich versuche das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken.
Aber es gelingt mir nicht. Er redet einfach weiter.
Eine unglaublich attraktive Frau setzt sich an den Nebentisch und schlägt verführerisch die Beine übereinander.
Zunächst bin ich dankbar für die Ablenkung. Mit einem Mal habe ich das Blau und das Wasser vergessen.
Ich ertappe mich bei dem Wunsch, sie anzusprechen.
Mein freier Wille entscheidet sich dagegen.
Man spricht fremde Menschen nicht einfach an.
Mein Freund erhebt sich. Er müsse nun gehen.
Wir sollten uns unbedingt wiedersehen.
Ich nicke artig.
Eigentlich möchte ich meinen Weg fortsetzen, aber ich merke, dass ich hungrig geworden bin. Also beschließe ich, eine Kleinigkeit zu bestellen.
Immerhin sollte ich auch hier über den freien Willen weiter nachdenken können.
Ich denke, also bin ich.
Sagten die Philosophen.
Könnte es auch bedeuten: Ich will, also bin ich?
Ohne nachzudenken bestelle ich wie immer ein Käsebaguette.
Was würde es bedeuten, wenn ich keinen freien Willen besäße?
Ich wäre nicht mehr als eine Maschine.
Ein komplexes Gerät, das vor langer Zeit einmal angestoßen wurde und dessen Räder und Kabel für alle Zeit und für jeden Moment bestimmen, was mit dieser Maschine geschieht.
Die gesamte Menschheit wäre nichts weiter als ein gigantisches Experiment, das wie eine Spieluhr aufgezogen und gestartet worden war.
Diese Vorstellung erscheint mir absurd.
Das Baguette will nicht so recht schmecken. Dabei erinnert es mich immer an meine Zeit in Frankreich.
Ich beschließe, dass die Frage nach dem freien Willen keine gute gewesen war. Sie ist zu eindeutig. Ohne Alternative.
Aber vielleicht sind bewegende Fragen manchmal eindeutig.
Die Sonne ist schon irgendwo hinter der alten Stadtmauer verschwunden. Sie hat auch genug von diesem Tag.
Ich gehe zurück und merke, dass mich irgendetwas stört.
Plötzlich höre ich hinter mir jemand meinen Namen rufen.
Es ist der Buchhändler. Er tapst mir eilig hinterher. In seinen Händen hält er etwas.
Er grinst mich an und versucht wieder zu Atem zu kommen.
Durch einen kuriosen Zufall habe er zwei antike Bücher erhalten, die er aber nicht bräuchte und auch nicht verkaufen könne. Er würde mir gerne eines der beiden schenken.
Freundlich hält er mir die beiden Bücher hin.
Sie haben die gleiche Farbe.
Die gleiche Größe.
Ich verstehe ihre Titel nicht.
Die Autoren sind mir völlig unbekannt.
Ich bemerke, wie ich beginne zu schwitzen, obwohl mit der Sonne auch die Hitze längst verschwunden ist.
Ich solle einfaches eines wählen, grinst mir der verdammte Buchhändler entgegen.
Ich schüttele nur den Kopf und stolpere einen Schritt zurück.
Wie kann er es wagen?
Dann drehe ich mich um und renne nach Hause.
Marcus Straßer lebt seit 50 Jahren auf diesem Planeten und ist eigentlich Diplom-Physiker und arbeitet er als Programmierer in einer Softwarefirma für Verlage und die Buchbranche.
Nebenher hat er aber schon sein gesamtes Leben über nicht nur Computerprogramme, sondern auch Geschichten und Bücher geschrieben, früher auch Kinderhörspiele für das Radio (WDR 3 und 5) und ein IT-Buch mit dem schönen Namen „PHP Quick&Dirty“ für den Franzis Verlag.
Er hat mehrere Bücher als Self-Publisher veröffentlicht, die alle auch ganz, ganz toll sind, leider hat sie noch kaum jemand gelesen.
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