Petra Lohan für #kkl17 „Begegnung“
Pinakothek der Begegnungen
Eine zierliche Frau mit hochgesteckten Haaren und dicker Hornbrille, gekleidet in einem legeren Blazer aus ultramarinblauer Seide und einer beigefarbenen Leinenhose, betritt mit schnellen kleinen Schritten den Raum. Sie hat einige Bögen Papier, die sie, leicht zitternd, in den Händen hält. Überall Regalreihen, vollgestellt mit Ordnern und Kartons. Ein weißes Neonlicht leuchtet alles gleichmäßig aus. Es ist stickig. Die Augen des einzigen Gastes richten sich auf sie. Sie sieht an ihm vorbei auf einen Punkt an der Wand, der sich in weiter Ferne befinden muss, und beginnt mit leiser Stimme ihren Vortrag:
„Guten Tag, ich begrüße Sie. Ich bin Cornelia Berin, Begegnungssammlerin, und Gründerin der weltweit einzigartigen Pinakothek der Begegnungen, in der Sie sich gerade befinden. Vor gut zwei Jahrzehnten begann ich, sie anzulegen. Mittlerweile sind es schon weit über hunderttausend Begegnungen, die ich hier archiviert habe.“ Sie räuspert sich und fährt fort:
„Ich will mich kurzfassen und Ihnen lediglich einen kleinen Einblick in meine Arbeit geben. Im Anschluss muss ich Sie bitten, die Räumlichkeit zu verlassen, da ich noch einen weiteren wichtigen Termin habe. Sollten Sie sich für bestimmte Exponate interessieren, wenden Sie sich bitte per E-Mail an mich, ich werde Ihnen die Informationen, die Sie wünschen, auf diesem Wege zukommen lassen.
Bitte, haben Sie Verständnis dafür, dass ich Ihnen die Originale nicht vor Ort zur Verfügung stellen kann. Das ist aus Datenschutzgründen nicht möglich. Zunächst möchte ich Ihnen erläutern, wie Begegnungen entstehen, welche Gefahren sie in sich bergen und warum es so wichtig ist, sich genauer mit diesem Thema zu beschäftigen: Wie entsteht also Begegnung? Eine Begegnung beginnt meist durch Blickkontakt. Das erleben wir jeden Tag viele Male. Für Sie klingt das vermutlich nur allzu banal. Aber:
Vergegenwärtigen Sie sich bitte, wie gefährlich ein solcher Augenblick sein kann! Man bringt unweigerlich jemanden in Verlegenheit, in dem man ihm direkt in die Augen sieht. Es kann sogar passieren, dass der andere aggressiv reagiert auf solch einen Blick oder eine Aufforderung daraus herausliest, die der Blickende nicht im Geringsten im Schilde führte. Oder der Blick löst Beschämen aus und der Getroffene wendet sich ab. Verunsichert und gekränkt. Und nicht auszudenken, wenn der andere den Blick erwidert und ihm standhält, nicht zur Seite sieht, beide für einen kurzen Moment, aber doch zu lange auf derselben Sichtachse verharren. Was dann?! Muss dann nicht zwanghaft eine Handlung daraus erfolgen? Der Augenblick hat seine unschuldige Flüchtigkeit verloren und die Blickenden haben sich zur Konfrontation entschlossen. Die Begegnung dehnt sich aus und es ist wie kurz vor einer Explosion. Möglich, dass an dieser Stelle eine Prügelei beginnt … oder weit Schlimmeres. Man hat keine Kontrolle mehr über das eigene Tun. Ein Anderer, Fremder mischt mit. Das kann man natürlich nur in den allerseltensten Fällen zulassen. Wenn man sich ganz sicher ist. Ich habe viel Zeit damit verbracht, diese Augenblicke und Begegnungen miteinander zu vergleichen und zu analysieren. Ich wollte ergründen, was es damit tatsächlich auf sich hat. Je mehr man über das Wesen des Augenblicks weiß, desto sicherer lässt sich die Gefahr unkontrollierter Handlung bannen. Dieses Wissen halte ich für außerordentlich nützlich und möchte es mit möglichst vielen Menschen teilen. Sie haben sicher herausgehört, dass ich zwei Arten der Begegnungen sammle:
Flüchtige und solche mit Folgen. Letztere nenne ich Konsequente Begegnungen. Naturgemäß gibt es weit mehr Flüchtige als Konsequente. Daher bleibt den Konsequenten das kleine Regal, das Sie dort hinten an der Wand sehen. Es sind genau zehn Begegnungen darin einsortiert, jede in einem Ordner, alles ganz minutiös und genau aufgeschrieben und kartographiert. All die anderen Regale, es sind genau dreißig, in vier Reihen aufgestellt, sind den Flüchtigen vorbehalten, also die, die ich im Vorbeigehen auf der Straße fand. Jeden Tag wandere ich durch die Gegend, sammle Augenblicke und notiere sie in mein kleines Notizbuch, am Abend folgt die Ausarbeitung:
Es ist mühsam und meine Streifzüge waren lange Zeit nicht sehr ertragreich. Um das Spektrum zu erweitern, verlegte ich mich darauf, mit der Kamera auf Augenblicke zu warten:
Die Menschen sehen in mein Objektiv hinein, ohne mich als Person wahrzunehmen. Warum sie es tun, weiß ich nicht. Offensichtlich fühlen sie sich von meinem unsichtbaren Blick angezogen. Ich selbst halte mich ja versteckt. Ich bekomme jeden Tag eine Vielzahl von Augenblicken vor die Linse und kann sie ungestört aufnehmen. So erreichte ich im letzten Jahr die stattliche Summe von 120 000 flüchtigen Begegnungen, die allermeisten davon fotografiert. Sie sind chronologisch geordnet, innerhalb eines Tages numerochronologisch. Sie dürfen sich gerne ein wenig zwischen den Reihen umsehen, machen Sie sich bitte Notizen, wenn Sie sich für bestimmten Zeitabschnitte interessieren.
Vielen Dank für Ihr Interesse!“
Cornelia Berin verbeugt sich gesenkten Blickes. Sie hält die Türe auf und dreht ihren Körper dem Flur zu. Nach ein paar Minuten ist der Besucher gegangen und sie schließt ab. Die Begegnungssammlerin ist erleichtert, wieder alleine sein zu können, und bevor sie sich in die privaten Bereiche ihrer Wohnung zurückzieht, möchte sie noch ein wenig an die frische Luft. Es hat sie alle Kraft gekostet, ihre Pinakothek öffentlich zu zeigen. Aufgewühlt hastet sie über mehrere Stockwerke die Treppen hinunter. Im Freien rennt sie fast, schlägt Haken, als verfolge sie jemand. In einem kleinen Strassencafé an der Ecke lässt sie sich erschöpft nieder. Der aufmerksame Kellner bringt ihr ein Glas Wasser. Sie zieht ihren Blazer aus, öffnet die oberen Knöpfe ihrer Bluse und lässt ihren Kopf ermattet auf die Oberfläche des Tisches sinken. Wenig später erscheint der Gast aus der Pinakothek an ihrem Tisch und fragt, ob er sich zu ihr setzen dürfe. Sie sieht auf und nickt zaghaft.
Der unauffällig gekleidete Mann mittleren Alters legt seine Kamera behutsam neben sich auf den Stuhl, bevor er sich setzt und einen Tee bestellt. Irrsinnigerweise begegnen sich ihre Blicke genau dann, als ein Sonnenstrahl so geschickt in sein rechtes Auge fällt, dass sie darin die ganze Farbpalette sehen kann, die seine Iris hervorbringt.
Seine eher dunklen Augen leuchten hell, und sie sieht das Gold darin und das Braun, ganz feine schwarze Linien, die es unterteilen und grüne Einsprengsel, und unzählige Muster, die sich ornamentartig von der tiefschwarzen Pupille zu den äußeren Rändern hinzeigen. Das Weiße um seine Iris ist ein zartes Türkis. Sie erkennt sie wieder. Sie sitzen sich gegenüber und sehen sich an. Keiner sagt etwas.
„Ich dachte immer, Ihre Augen seien braun – das stimmt nicht. Sie sind blau. Hellblau wie die Farbe des Wassers“, beginnt er schließlich. Cornelia wendet ihren Blick wie zufällig zur Seite und beobachtet ein paar Spatzen, die am Nachbartisch um die Brotkrumen streiten. Der aufkommende Wind hat eine Strähne aus ihrer Frisur gelöst.
„Wie heißen Sie?“
„Oh. Verzeihen Sie. Ich bin Konstantin Miller. Bitte, darf ich Sie fotografieren? Es wäre das erste Bild von Ihnen, das ihre Augenfarbe verrät. In all den Jahren ist es mir nicht einmal gelungen, einen Blick von Ihnen zu erhaschen, obwohl ich wirklich unzählige Aufnahmen von Ihnen gemacht habe. Ich kenne Ihren Gang, Ihre Vorlieben für hochgesteckte Frisuren und Kleidungsstücke aus blauer Seide.
Wenn ich nur ein einziges Portrait von Ihnen machen dürfte, auf dem Sie mir einen Blick in ihre Augen gewähren, dann überlasse ich Ihnen den gesamten Ordner mit allen Fotografien, die ich von Ihnen gemacht habe.“
Sie schluckt, sieht wieder weg, irgendwohin ins Nichts, möchte fliehen.
„Sie entschuldigen?“ Cornelia steht auf und begibt sich ins Innere des Cafés. Sie kennt seine Augen sehr gut. Viele Male hat sie seine Blicke festgehalten. Und jetzt, wie charmant er sie in viele kleine Lachfältchen gebettet hat. Die kannte sie noch nicht. Auch nicht das Strahlen, das von ihnen ausgeht. Und die Ruhe.
Sie überlegt, durch die Hintertür zu verschwinden, bestellt dann aber doch eine Flasche Rotwein und kehrt zum Tisch zurück.
„Sie trinken doch ein Gläschen Spätburgunder mit mir, oder?“
„Sind Sie sich auch ganz sicher?“ fragt er sie zurück, während er das Objektiv einstellt um seine Kamera auf sie zu richten.
„Ich nehme Ihr Angebot an“, bemerkt sie beiläufig und gießt den Wein in die Gläser.

Petra Lohan ist 1967 in Villingen geboren und in Karlsruhe aufgewachsen. Sie lebte mehrere Jahre in Stuttgart und Wien, wo sie sich ganz der Malerei widmete. Vorübergehend studierte sie dort Philosophie, mit der Idee, ihrer Malerei einen Ausdruck in Worten mitzugeben. Seit 1995 ist sie Wahlberlinerin. Hier läßt sie sich zur Shiatsu-Praktikerin ausbilden, gründet den Shiatsu-Raum „Shiatsu-im Türkis“, und beginnt, zu schreiben. Seit den Anfängen ihrer Malerei, später auch in ihrer Shiatsu-Praxis und ihren Texten beschäftigt sie auch heute noch v.a. ein Thema: „Wie sind wir als Menschen mit der Welt verbunden, was sind unsere Triebwerke und welches unsere Geschichten? Wohin führt unser Weg und welche Spuren hinterlassen wir?“
Heute arbeitet sie als Bildende Künstlerin, Shiatsu-Praktikerin und Autorin von Kurzgeschichten.
Veröffentlichungen:
2016: Erostepost: „Der Beamte und das Mädchen“
2017: Mölltaler Geschichten Festival, Pustet-Verlag: „Die Frage“
2017: Der Bund-Essay-Wettbewerb: „Die Biotop-Schule“
2018: Mölltaler Geschichten Festival, Pustet-Verlag: „Pinakothek der Begegnungen“
2020: Anthologie zum Aphorismus-Wettbewerb 2020, Hattingen, „Streitbar und umstritten“
2021: Erostepost: „Stromausfall“
2021: Der Bund – Essay-Wettbewerb: „Der Tiger ist los – Plädoyer für einen anderen Lockdown“
2021: Antologie „Großstadtgeheimnisse“, #Berlin Authors: „Das pinkfarbene Mädchen“
2021: Bubenreuther Literaturwettbewerb, Anthologie: „Schleier“
2021: Anthologie „In the Year 2020“, Salsa-Verlag: „Triade mit Tiger“
2021: Schreibtisch: „Das Lächeln des Emeritierten“
2022: Anthologie der Leebühne Sonochnie: „Triade mit Tiger“ und „Stromausfall“
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