Bernhard Horwatitsch für #kkl17 „Begegnung“
Discours de la méthode
Verstehen wir zu fühlen
oder das Gefühl zu verstehen
wenn wir wütend wühlen
uns grübelnd nur im Kreise drehen
wenn Scham und Schuld
uns ganz verlegen machen
und wir vor lauter Ungeduld
verlegen lachen
zweigeteilt wie der alte Descartes
sind wir unentschieden
denn es ist nicht unsre Art
uns ganz zu lieben
Gegen das verführerische Du
Für mich erscheint es immer wieder frappant, wie ignorant und selbstverständlich die meisten Menschen zur Tagesordnung übergehen. Die Mehrheit lässt sich von der Essenz bestimmen und tragen. Doch die Existenz bestimmt die Essenz in dem Sinne, dass die Quidditas dem quod est logisch folgt. Dass ich bin, und nicht etwa nicht bin, erscheint als das große Seinsrätsel. Aber die meisten Menschen kümmern sich nur darum, was sie sind. Ihr eigenes Sein nehmen sie mit einer Selbstverständlichkeit hin, dass man hier in der Tat Ignoranz unterstellen muss. Vermutlich ist diese Ignoranz der Mehrheit als eine kollektive Verdrängungsleistung zu sehen. Denn die Erkenntnis des Mangels an Bedeutung der eigenen Quidditas würde naturgemäß eine schwere Depression auslösen. Je intensiver ein Mensch fähig ist, seine eigene Bedeutungslosigkeit zu verdrängen, desto größer erscheint ihm seine eigene Bedeutung. Wer nicht zu einer solchen Verdrängung fähig ist, der sucht sich ersatzweise Bedeutung im anderen. Das ist es, was uns der Existenzialismus anbietet, indem er uns den anderen als Spiegel vorhält. Entweder ich sonne mich im Glanz der anderen, oder nähre mich vom Schatten der anderen. Immer aber verhindere ich dabei den Blick auf mich selbst. Die ganze Psychologie ist im Licht der Philosophie daher nichts weiter als eine spaßige Kuriosität von sich vertauschenden Seiten. So wie der Spiegel die ihm zugewandte mit der ihm abgewandten Seite vertauscht, vertauschen die meisten Menschen ihre Existenz mit der Essenz. Dadurch wechselt die ‚Händigkeit‘. Wenn sich der Beobachter in die Lage seines Spiegelbildes versetzen möchte, so erscheint es ihm, als ob rechts und links vertauscht wären – alles erscheint im Wortsinne spiegelbildlich. Es liegt also nahe, die falsche Händigkeit als eine Vertauschung von rechts und links zu interpretieren, was dann zum scheinbaren Widerspruch führt, dass im Gegensatz dazu oben und unten nicht vertauscht wird. Um in diesem Bild zu bleiben, kann man formulieren, dass der Spiegel nicht links und rechts, sondern vielmehr vorn und hinten vertauscht. Was auch immer der Spiegel vertauscht – er vertauscht und liefert damit eben nur ein Abbild. Ein Grundproblem jeder Phänomenologie und auch jeder Ontologie ist diese Abbildhaftigkeit des Seins. Dies war schon Duns Scotus (schottischer Mönch des 13. Jahrhunderts) klar, als er die Haecceitas (Dieses-Heit) einführte und den Grundsatz „individuum est ineffabile“ (Das Ich selbst ist nicht diskutierbar) aufhob. Im Gegenteil: Nun wird das Einzelne zum Besonderen nicht nur als Sonderfall, sondern als positiv in dem Sinne, dass vom Individuum weg nichts weiter ableitbar ist. Dass ich bin ist der einzige Grund auf dem ich stehe. Was ich bin ist variabel, kontingent und austauschbar. Ich könnte so, oder auch anders sein. Doch all das könnte ich nicht sein, wäre ich nicht. Aber die Mehrheit der Menschen beschäftigt sich nahezu ausnahmslos mit den Zufälligkeiten ihres Seins. Das ist gewissermaßen putzig. Es ist grotesk und vor allem ist es vollständig sinnlos. Hier haben wir in der Tat den Mann in dem Witz, der seinen verlorenen Schlüssel nur dort sucht, wo eben gerade das Licht hinfällt. Dem Tasten im Dunkeln misstraut er. Doch der Grund des Seins liegt eben im Dunkel.
Im Gespräch mit Menschen bleibe ich allein zurück. Alles nicht Gesagte kopuliert auf unanständige Weise mit dem Gesagten und ich möchte aufschreien: NEIN! So nicht. Anders. Aber da bin ich schon allein. Das ist die Mutter alles Sprechens. Wäre also der andere mein Rezipient und Grundlage meiner Quidditas, dann ist meine Existenz doch ein einziges Missverständnis. So hat uns der Existenzialismus von Sartre (Das Sein und das Nichts) ein verlockendes Angebot gemacht, als er uns Menschen in zwischenmenschlichen Beziehungen verortet hat. Also wäre ich nur, wenn auch andere sind. Ich existiere nicht (so äußert sich Lucien Feurier in „Die Kindheit eines Chefs“, einer Erzählung von J.P. Sarte aus dem Jahr 1938). Meine Existenz ist nur ein Verhältnis. Dass ich bin – so der Existenzialismus, und so auch die ganze moderne Psychologie – wurde auf die rationale Formel eines Quotienten runter gebrochen. Dass ich bin ist nur ein Verhältnis von dem, was ich bin im Spiegel des anderen. Der Andere ist also der, der mir von vorne erscheint, obwohl er hinter mir ist. So wie ich für den anderen vorne erscheine und tatsächlich hinter ihm stehe. Dieser Andere mit seiner Strahlkraft und ich mit meiner Strahlkraft treffen aufeinander und dann ist dies der Grund unserer beiden Existenzen. Unabhängig voneinander gibt es uns nicht. Aller dunkler Grund meiner Existenz ist nur ein Tasten ins Leere, ins Nichts. So wurzelt der Existenzialismus von Sartre, der sich ganz tief in das Denken der westlichen Industrienationen eingeschrieben hat im Renaissance-Humanismus und dessen Projekt „Wo Gott war soll Ich werden“. Das Projekt des Menschen fasste Marsilio Ficini in seinem Neuzeit-Projekt der sieben Wege der Seele zu Gott gut zusammen. Herder hat es dann in seiner Philosophie rezitiert und zum Grundstock der Weimarer Klassik gemacht (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit):
- Höchste Wahrheit sein- Projet, der Wissenschaft
- Alle Dinge sein – Projekt der Technik
- Alles beherrschen – Projekt des Militärs
- Überall und immer sein – Projekt der Eroberung
- Alle Gewalten des Herrschers besitzen: Voraussicht, Gerechtigkeit, Stärke – Projekt der Politik
- Größten Reichtum und höchste Lust genießen – Projekt der Ökonomie
- Sich selbst verehren wie Gott – Projekt der Säkularisierung
Der Neuplatoniker Ficino hat damit bereits im 15. Jahrhundert das wesentliche Projekt klar fixiert. Das erklärt diesen fulminanten Schaffensrausch des modernen Menschen. 500 Jahre später hat sich aber eher das Schicksal Faustens verwirklicht, dem am Ende die Lemuren (Wesen halb Maschine, halb Mensch – Sinnbild der „Arbeiter“) sein eigenes Grab schaufelten. Die Grundfragen konnten weiterhin nicht geklärt werden. Das Unbehagen ist geblieben. Doch der Mensch ist eben nicht Gott. Als wir Menschen uns noch in der Obhut einer transzendent überhöhten Existenz begriffen, hatten wir eine Moral und eine Ethik, die außerhalb unseres Verhältnisses zueinander begründet war. Der heutige Orient entwirft ja derzeit genau diesen Gottesbegriff als Unterwerfung wieder neu. Und wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir davon ausgehen, dass die Quidditas der westlichen Industrienationen, uns nur zu verwirrten Hedonisten machte. Goethe wusste das noch. Er litt noch unter der Rationalisierung: Am farbigen Abglanz haben wir das Leben. Doch alles in mir, jede Faser in mir widerstreitet gerade dem Abglanz. Aber als Mensch meiner Zeit bin ich der Kontingenz unterworfen. Und der Zufall wirft als Spiegelbild mich selbst in meine Welt zurück. Wir alle kennen das Problem. Wir können uns an alles gewöhnen. Haben wir nur genügend Zeit, dann finden wir uns in jeder Quidditas zurecht. Ob wir am Nordpol leben, ob wir psychotisch sind, ob wir allein sind, ob wir mitten in der Öffentlichkeit stehen – egal. Es ist vollkommen egal. Denn das ist die Quidditas. Und am Ende bleibt nur die Quodditas (diesen Begriff prägte Ernst Bloch in dem Buch „Zwischenwelten der Philosophie“), dass ich bin! Grund von allem. Das spüre ich vom großen Zeh bis zum linken Ohr. Denn – wie gesagt – was ich bin ist purer Zufall. Eine bizarre Mischung aus Vermutung, Erfahrung und Verdrängung – das bin ich. Was ich aber immer bin, wenn ich alle Vermutung, Erfahrung und Verdrängung abziehe ist, dass ich bin. Und diese Haecceitas (neulat., zu lat. haec: „dieses“) kann dann nur noch einer höheren transzendenten Ordnung unterliegen. Der ganze Denkfehler der humanistischen Renaissance und von Sartres‘ Existenzialismus beruht eben darauf. Die Evolution erklärt nichts. Der Kreationismus ist nur Phantasie. Es geht also nicht darum, herauszufinden, was uns ausmacht. Denn hier sind wir genauso in der Quidditas gefangen und von Kontingenz umgeben. Der Grund von allem ist allein im Grund selbst zu suchen. Hier setzte schon vor langer Zeit der Buddhismus an. Der Buddhismus ist die einzige Religion, die in ihrer Praxis den Grund zur Basis machte. Samudaya ist eine der vier edlen Wahrheiten des Buddhismus: Das Verlangen nach Leiden ist der Ursprung des Leidens. Existenz ist der Ursprung der Existenz. Der Grund ist der Grund des Grundes. Das Verhältnis, der Quotient ist nur das Ergebnis des Grundes. Wer sich also der Quidditas weiter hingibt, der hechelt in aller Vergeblichkeit einer großen Illusion hinterher. Und nun, liebe Leser, geht wieder über zu eurer Tagesordnung. Seid hingebungsvoll in allem, was ihr tut. Denn nicht was ihr tut, sondern dass ihr es tut macht euch aus. Eure Existenz ist alles. Jede Existenz hat ihren Grund in sich. Ihr wollt Harmonie in diesem leuchtenden Spektakel? Dann hört auf, auf die anderen zu sehen. Denn jede Harmonie, jede Moral, jede Ethik ist in der Existenz. Und das ist immer ein Sonderfall als positives Sein. Alle Amoral liegt im Verhältnis, die als negative rationale Zahl zum Quotient wurde und sich so in einem Zwischenreich zwischen Himmel und Hölle verortet.
Bernhard Horwatitsch, *1964, München, Dozent für Recht, Ethik und Literaturgeschichte, hat bereits in zahlreichen Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht. Letzter Roman »Das Herz der Dings«, www.mabuse-verlag.de
Akrobat für Gedankenspiele, regelmäßiger Autor im Philosophie-Magazin Lichtwolf (Freiburg) und der Edition Schreibkraft (Graz)
Gespäch / Interview mit Bernhard Horwatisch und Jens Faber-Neuling HIER
Über #kkl HIER