Falscher Einsatz

Daniela M. Ziegler für #kkl17 „Begegnung“




Falscher Einsatz

… und eins … und zwei … und drei …

Siebzehn Takte waren es bis zum Einsatz des Soprans. Sie hatten es Hunderte Male geprobt – so war es ihr jedenfalls vorgekommen -, und sie war sich absolut sicher, dass sie es nun intus hatte: Den Einsatz „Dies irae, dies illa“ im Requiem des aufstrebenden britischen Neutöners, das hier in der Universitätsstadt seine deutsche Uraufführung feiern sollte.

… und vier … und fünf … und sechs ….

Die Fuge, die auf den Einsatz des Chors zuarbeitete, war so dissonant, wie eine Tonabfolge nur sein konnte, und dissonant würden die Sopranstimmen auf diese Tonfolge treffen. Grandios! Irritierend! Verstörend!

… und sieben … und acht … und neun …

Der Tag des Zorns! Sie bebte vor Aufregung, wunderte sich nicht zum ersten Mal über die Gelassenheit ihrer Nachbarin, einer Oberschichtschönheit in Blond, die sie aufrichtig verehrte. Nicht nur wegen ihrer Schönheit und Eleganz, auch wegen der Sicherheit, die sie ausstrahlte. Das bekam man in die Wiege gelegt, das konnte man nicht lernen.

… und zehn … und elf … und zwölf …

Der Dirigent hatte sein übliches vergrätztes Gesicht aufgesetzt: Wieso konnte dieser Mann nicht anders schauen? Sie sah lieber weg, denn wie ein Mensch mit einem solch wunderbaren Beruf ein derartig vergrätztes Gesicht machen konnte, war ihr ein Rätsel.

… und dreizehn … und vierzehn … und fünfzehn …

„Dies irae, dies illa!“, erschollen im höchsten, im reinsten Mädchensopran diese

beiden verstörenden irritierenden Worte, der Tag des Zorns war angebrochen, aber nicht auf dem siebzehnten Takt, sondern schon auf dem sechzehnten.

Ihr wurde zuerst heiß, dann kalt, sie versteinerte wie Lots Frau, sie war ernüchtert wie nach einem Kaltwasserguss auf den Kopf! So etwas war ihr noch nie passiert, das war ja wie Pupsen in der Straßenbahn, wie Nasebohren an der Ampel, nein schlimmer, das war ja wie: einen Takt zu früh einsetzen!

Ihre Nachbarin war ruhig und entspannt wie immer, sie setzte mit den anderen richtig ein, der ganze Sopran sang richtig „Dies irae, dies illa“ … Sie aber war so erschrocken über ihren verfrühten Einsatz, dass sie schwieg; irgendwann bewegte sie den Mund, sang aber nicht, ihr steckte ein Frosch oder ein großer Schluchzer in der Kehle, hätte sie versucht zu singen, wäre der Frosch quakend herausgesprungen oder der Schluchzer hätte das ganze Kirchenschiff erschüttert.

Aus den Augenwinkeln sah sie zu ihrer Nachbarin: Die schöne Blonde aus der Oberschicht hielt elegant die Noten, anmutig umschlossen ihre gepflegten Hände mit den zartrosa lackierten Nägeln die schmale Partitur. Diszipliniert öffneten und schlossen sich ihre dezent geschminkten Lippen, aufmerksam blickten ihre großen blauen Augen auf das Notenblatt, dann heftete sie sie wieder auf den Dirigenten. Sie tat so, als hätte sie den verfrühten Einsatz an ihrer rechten Seite gar nicht bemerkt. Wir tun so, als hätten wir es nicht bemerkt, eine Maxime der feinen Leute – eigentlich gar nicht so schlecht.

Der Dirigent hätte nun wirklich Grund gehabt, vergrätzt zu blicken. Scheu erhob sie den Blick zu ihm. Blickte er sie gerade an? Runzelte er die Stirn? Dräute er aus seinen kleinen Augen direkt zu ihr hinüber? Waren seine tiefen Falten von den Mundwinkeln abwärts nicht doch noch tiefer geworden?

Es war klar, sie würde sich hier nicht mehr blicken lassen können! Am besten, sie verließ noch vor Ende des Konzerts heimlich ihren Außenplatz – zum Glück stand sie ganz außen, nicht in der Mitte der Reihe! – und schlich die Treppe von der Empore hinunter, versteckte sich hinter dem Pfeiler, bis das Konzert aus wäre, und wartete draußen in der Menge auf ihre Eltern, denen sie die beiden Freikarten gegeben hatte, die jedes Chormitglied bekam, damit das Konzert auch ja vollbesetzt wäre.

Das Ende nahte. Sie erwartete es mit Ungeduld. Sie hatte während des ganzen Konzerts keinen Ton herausgebracht, hatte nur die Lippen bewegt und die Noten umgeblättert, hatte sich gesetzt, wenn die Solisten sangen, war wieder aufgestanden, wenn der Chor dran war.

Alle standen auf, die schöne Blonde neben ihr trug ein Lächeln auf den Lippen, das sogar den vergrätzten Dirigenten dazu brachte, seine schlechten Zähne zu zeigen; offenbar war er zufrieden, jedenfalls sah es so aus.

Dann hörte man, wie das Publikum füßescharrend zum Ausgang strebte. Sie war schon die Treppe hinabgeeilt, hatte ihren Mantel ergriffen, der in der provisorischen Garderobe hing, und war hinausgetreten. Zum Glück war es dunkel, sie schlich sich zum anderen Ausgang des Chors, der den Tenören und Bässen vorbehalten war. Dort standen sie schon und warteten auf Freunde und Angehörige. Tenor und Bass hätten sie als Sünderin des falschen Einsatzes nie identifizieren können, das war bei den Frauenstimmen was anderes, sie war sich sicher, alle Damen hatten sich gemerkt, wer den Einsatz verpatzt hatte, und sie würden mit Fingern auf sie zeigen. Bei den Tenören und Bässen war sie vorläufig sicher.

Da traten ihre Eltern aus der Kirche.

„Schön war das, Kind …“ Mama küsste sie auf beide Wangen.

„Jetzt aber nach Hause – es ist kalt …“ Das war Papa, der von einem Bein aufs andere trat.

„Ja, obwohl das so modern war: irgendwie doch beeindruckend.“ Mama. „Ach, mein kleines Mädchen!“, und umarmte ihre Tochter sichtlich gerührt.

„Kommt schon, macht voran, mir ist kalt.“ Papa, sich räuspernd.

Zu Hause sprach Mama das Unglück an.

„Mir kam es so vor, als ob eine der Frauenstimmen zu früh angefangen hat. Kann das sein?“

„Ja, stimmt“, antwortete das kleine Mädchen mit Herzklopfen. „Der verfrühte Einsatz. Das war ich.“

Mama und Papa lachten lauthals.

„Ach, Kind, das kannst du doch gar nicht gewesen ein. So schön und sicher, wie du singst.“

„Doch, das war ich.“

„Jaja. Schon gut. Sicher warst du das.“ 

Sie glaubten ihr kein Wort.

„Mein kleines Mädchen!“, sagte Mama liebevoll und strich ihr zärtlich übers Haar.

Am nächsten Morgen stand in der städtischen Zeitung:

„… beeindruckende Aufführung unter erfahrener Leitung durch Professor Dr. Isegrim Hübendübel … routiniert und glänzend geführtes Orchester … brillanter Chor … beseelte Stimmen … dass eine unfreiwillige Solistin beim Dies irae verfrüht einsetzte, trug zur Originalität des grandiosen Werks bei … „

Niemand schien das tragisch genommen zu haben. Auch der britische Neutöner Sir Samuel Cattle sah es gelassen, nahm es mit britischem Humor („Es ist so viel besser geworden!“), und man sagte, dass er den verfrühten Einsatz des ersten Soprans bei seinen zukünftigen Aufführungen gezielt in seine Partitur mit aufnehmen wolle. Eine Herausforderung für die Chorsängerin, die dazu auserwählt werden würde! Sie würde auf sechzehn, die anderen auf siebzehn zählen, und die jeweilige Sängerin würde Blut und Wasser schwitzen, den richtigen Zeitpunkt zu treffen. Man wünschte ihr jetzt schon einen netten, verständnisvollen Dirigenten, der ihr freundlich und mit Verve zugleich den Einsatz signalisieren würde!

Aber davon bekam das kleine Mädchen nichts mit. Für sie war mit dem falschen Einsatz das Chorsingen erledigt – und wie sie in diesem Moment fest überzeugt war: für alle Zeiten!

Sie ging nicht mehr in den Chor. Stattdessen ging sie donnerstagsabends mit Boris aus. Jeden Donnerstag von Viertel vor acht bis Viertel nach zehn traf sie sich mit Boris.

Wie war das gekommen? Vorher hatte es doch garkeinen Boris gegeben?

Das kam so:

Als die nächste Probe nach dem Konzert angesetzt war, hatte sie sich auf den Weg gemacht, mit Noten unterm Arm und mit langsamen Schritten, die immer langsamer wurden, je näher sie ihrem Ziel kam. Als sie etwa Viertel vor acht die Bienenstraße zum Chorraum hätte hinuntergehen sollen, sah sie die blonde Oberschichtschönheit in Kaschmirmantel und mit perfekt sitzender Frisur auf sich zukommen und ging nach kurzer Überlegung einfach weiter, bevor sie erkannt werden würde, ging an der Providenz-Kirche vorbei, bis zur Theaterstraße, dort blieb sie stehen, und zwar vor dem Kino-Café, wo sie sich schon mal mit einer Freundin getroffen hatte.

Da stand sie nun und starrte den Eingang des Cafés an.

Ein junger Mann trat zögerlich auf sie zu.

Den kannte sie. Er war mal an ihrer Schule gewesen, zwei Klassen höher, dann hatte er die Schule gewechselt. Eine Weile her. Wie hieß er noch? Sie würde gleich drauf kommen. Er zog immer noch den Kopf so ein, als ob er sich vor einem erwarteten Schlag ducken würde. Aber er duckte sich wahrscheinlich nur deshalb, weil er so groß war und nicht durch jede Tür passte. Gott, dieser alte Trenchcoat! Hatte er den nicht auch schon früher getragen? Der war wahrlich nicht schöner geworden. Nur ausgefranster.

„Hallo“, sagte er.

„Hallo“, entgegnete sie.

„Kennst du mich noch?“, fragte er.

„Ja“, sagte sie. „Du bist der Boris.“

„Genau“, antwortete er erfreut. „Und du bist die Birte!“

„Genau.“

Pause.

Sie schauten sich freundlich, aber verlegen an.

„Ähm, willst du auch ins Kino-Café?“, fragte er mutig und zog vorsichtshalber den Kopf ein.

„Och, nix gegen zu sagen“, gab sie sich indifferent.

„Na, dann gehen wir doch einfach rein“, schlug er vor.

Mit ihm ins Gespräch zu kommen, war erstaunlicherweise total leicht. Nachdem sie ihm in einem Anfall von Zutrauen alles erzählt und er sie nicht ausgelacht, sondern verständnisvoll mit dem Kopf genickt hatte, wenn auch mit einem leisen Lächeln in den Mundwinkeln, trafen sie sich nun jeden Donnerstagabend im Kino-Café, und nach einer Weile auch an anderen Tagen oder Abenden, dann zogen sie zusammen, heirateten und waren glücklich und zufrieden – aber so weit sind wir noch nicht.

Kam Birte an den Donnerstagabenden nach Hause, wurde sie gefragt:

„Na, wie war’s in der Chorprobe?“

Dann antwortete sie:

„Ich war nicht in der Chorprobe. Ich geh da nicht mehr hin.“

„Quatsch mit Soße“, sagte Papa. „Wieso solltest du auf einmal nicht mehr in die Probe gehen?“

„Weil ich den falschen Einsatz gebracht habe und mich nicht mehr hintraue. Ich fürchte mich davor, dass alle mit Fingern auf mich zeigen!“

Papa schmunzelte und machte das vermeintliche Spiel mit.

„Wo geht denn unser kleines Mädchen stattdessen hin?“

„Mit Boris ins Café!“

„Mit Boris? Was für ein Boris? Sag bloß, mit dem Tennisgenie!“

„Och, Papa! Der Tennis-Boris, der gehört doch in DEINE Jugend! Für mich ist das ein Vollhonk! Nö … mit Boris aus der Parallelklasse!“

„Clara!“, rief Papa in die Küche. „Unser kleines Mädchen geht mit Boris Becker aus, wenn sie donnerstagabends vorgibt, in den Chor zu gehen!“

Aus der Küche war deutlich Mamas perlendes Lachen zu hören.

Sie glaubten ihr nicht.

Erst als das nächste Konzert des Chors anstand (Strawinskys Psalmensymphonie) und sie keine Freikarten für ihre Eltern hatte, schauten sie sich gegenseitig erstaunt an.

„Sag mal, Kind, das mit dem falschen Einsatz und diesem Boris …“

„Ja“, sagte sie. „Genau.“

Endlich war der Groschen gefallen, obwohl es gar keine Groschen mehr gab, sondern nur noch die Redewendung. Birte schaute auf die Uhr, sagte „Tschüs!“ und verließ das Haus.

Sie war mit Boris verabredet. Er hatte einen Job und eine Wohnung in Aussicht; zusammen wollten sie heute den Mietvertrag studieren, bevor er ihn unterschrieb. 




Daniela M. Ziegler

Geboren in Heidelberg, promovierte über römische Frauenfrisuren, schreibt seit 1997 Kurz- und Langprosa auf Hochdeutsch (u.a. in Phobi-Almanach, München) und Kurzprosa auf Kurpfälzisch (in: Unser Land, Heidelberg).






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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