Zeitreise in die Vergangenheit

Barbara Schwarzl für #kkl17 „Begegnung“




Zeitreise in die Vergangenheit

Plötzlich hielten mich fremde Arme auf. Reflexartig löste ich meine Augen vom Schaufenster. Ich stammelte eine Entschuldigung, denn ich wäre um ein Haar in ihn hineingelaufen. Ich betrachtete ihn wie jemanden, den ich vor Ewigkeiten das letzte Mal gesehen hatte. Ich ließ meinen Blick fasziniert über sein Gesicht wandern. Meine Augen drohten in seinen zu ertrinken.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte mich der Mitzwanziger.

Ich nickte und sah ihn verdattert an. Einen wundervollen Augenblick lang hatte ich gedacht, dass ER vor mir stünde. Natürlich war er es nicht. Leider. Was hätte er auch in unserer Stadt verloren. Er lebte hunderte Kilometer von hier entfernt. Seit unserer letzten Begegnung waren viele Jahre vergangen. Inzwischen waren wir beide weit jenseits der Zwanzig im Gegensatz zu dem jungen Fremden.

„Geht es Ihnen wirklich gut?“, fragte mich dieser.

Auch diese Fürsorglichkeit erinnerte mich an ihn. „Danke. Es ist nur ..“ Ich brach ab. „Auch wenn es abgedroschen klingt, sie erinnern mich an jemanden.“

„Das ist schön“, antwortete er lächelnd.

Ich sah ihm nach und hatte dabei ganz deutlich seinen Doppelgänger, den ich einmal geliebt, aber viel zu schnell wieder verloren hatte, vor mir. Ich hatte sehr lange nicht mehr an ihn gedacht. Seit einer gefühlten Ewigkeit steckte ich in einem anderen Leben. In einem anderen, als ich es mir damals ausgemalt hatte. Passanten zogen hektisch an mir vorbei. Manche rempelten mich an oder beschimpften mich, weil ich den Weg blockierte. Aus den Lautsprechern dudelte laute Musik. All das prasselte an mir ab. Ich war in Gedanken weit, weit weg. Bei ihm.

Benommen schleppte ich mich in eines der Cafés. Um von meiner Zeitreise nicht zu schnell wieder im Hier und Jetzt anzukommen, orderte ich keinen Kaffee, wie ich es für gewöhnlich getan hätte, sondern ein Glas Bordeaux. Ich trank nie Alkohol. Schon gar nicht allein und mitten am Tag. Ich wollte in diesem Zustand der Benommenheit verharren, ihn noch ein wenig auskosten. Ich nippte am Wein und erblickte den jungen Fremden an einem der Nachbartische. Wir nickten uns wie alte Bekannte zu.

Dann kehrte ich in meine Erinnerung zurück, nippte am Wein und lächelte. Der Schmerz über unsere Trennung war vor langer Zeit verflogen. Die Zeit hatte ihn geheilt, wie so vieles andere auch. Ich wusste noch jedes Detail, so als wäre es gestern geschehen. Jedes Wort, jede Berührung. Alles war lebendig. Wir hatten Pläne geschmiedet. Meine Heimkehr hätte nur ein kurzes Intermezzo sein sollen. Ich hätte zu ihm zurückkehren sollen. Vielleicht sogar für immer. Ich hatte es verbockt. Ich war zu wenig spontan gewesen, zu sehr fixiert auf Sicherheiten. Dabei hätte er der Richtige sein können.

Ich spulte den Film vor meinem inneren Auge vor und zurück. Immer wieder. Die schönsten Momente sah ich mir in Dauerschleife an und trank dabei bedächtig den Rotwein. Den letzten Schluck hielt ich mir für unsere Schlussszene auf. „Non voglio, che tu parti“, hatte er mir ins Ohr gehaucht. Natürlich hatte auch ich nicht abreisen wollen. Ich wollte niemals weg von ihm. Der Abschiedsschmerz war so groß, dass er kaum zu ertragen war. Wir küssten uns ein letztes Mal. Traurig löste ich mich aus seiner Umarmung und stieg in mein Auto. Bis zur Stadtgrenze biss ich mir auf die Zähne. Dann gab es kein Halten mehr. Ich weinte ohne Unterlass, dass ich die Fahrbahn nur mehr verschwommen wahrnahm.

Heute, so viele Jahre später, tat die Erinnerung nicht mehr weh. Jetzt konnte ich die schönen Momente auskosten und dankbar dafür sein.

Ich griff nach meinem klingelnden Telefon. Es war mein Mann.

„Du klingst müde“, sagte er.

„Das liegt am Bordeaux.“

„Muss ich mir Sorgen machen?“

„Nein, mein Schatz. Erzähle ich dir später.“ Wir waren seit siebzehn Jahren glücklich verheiratet. Manche Menschen fanden nie ihre wahre Liebe. Ich aber fand sie zweimal.

Bevor ich das Café verließ, zögerte ich, ob ich mich bei dem jungen Fremden für meine Zeitreise bedanken sollte. Er hielt gerade die Hand einer jungen Frau. Sie schienen so verliebt zu sein wie wir damals. Diesen kostbaren Moment wollte ich nicht stören.

Als ahnte er mein Zögern, wandte er seinen Kopf in meine Richtung. Unsere Augen trafen sich. Zum letzten Mal schenkte er mir ein umwerfendes Lächeln und schien zu verstehen.







Barbara Schwarzl arbeitet seit Beendigung ihres Pharmaziestudiums in verschiedensten Apotheken Österreichs. Die schreibende Apothekerin hat ein Faible für Personen mit schwierigen Schicksalen, die aber mit aller Kraft für ein besseres Leben kämpfen und sich niemals unterkriegen lassen. Fasziniert von den Untiefen der menschlichen Seele widmet sie sich in ihren psychologischen Romanen unbequemen Themen, die zum Nachdenken anregen. Darüber hinaus schreibt sie gerne Reiseliteratur.

Veröffentlichungen:

Reise quer durch Estland, Lettland und Litauen„, ein Reisetagebuch

Alles anders. Auf Umwegen angekommen„, ein Roman über Venedig und die Normandie

Spurensuche. Diagnose Schizophrenie„, eine Mischung aus Roman und Sachbuch

Dreierblues“, eine Roadnovel bzw. ein Reiseroman über die Dominikanische Republik

Nicht ohne meine Schatulle“, ein Roman über Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung bzw. Gewalt in der Familie






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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