Ich habe dich geliebt

Susanne Wirtz für #kkl17 „Begegnung“




Ich habe dich geliebt

„Du möchtest reden?“, entfuhr es Annette erstaunt.

„Es ist wichtig, und ich will erst mit dir sprechen, bevor ich es den Kindern sage.“

Wann hatte er sie zuletzt auf der Arbeit angerufen? Seltsam. Diese Entschlossenheit in Thomas‘ Stimme, sein Wunsch nach einem Gespräch. So hatte sie ihn noch nicht erlebt.

„Planst du einen Neuanfang zwischen uns?“

„Nein, keine Angst.“

In seinem Tonfall schimmerte wieder der Thomas auf, den sie kannte. Humorvoll, ironisch und schlagfertig.

„Hast du jemanden kennen gelernt?“ Beklemmung setzte sich auf ihre Brust.

„Ja, aber das ist nicht alles.“

Annette wollte den Zustand quälender Ungewissheit so schnell wie möglich beenden. Er würde das Geheimnis lüften, wenn sie insistierte, aber welches Recht hatte sie, ihn zu nötigen? Es war besser, das Telefonat zügig zu beenden.

„Ich komme morgen Nachmittag zu dir, ok?“

Der Weg zu Thomas‘ Wohnung war kurz. Es war schön, ihn nicht mehr zu nah, aber noch greifbar zu haben. Fast wähnte sie sich auf dem Weg zu einem heimlichen Date. Den Kindern hatte Annette nichts von dem Treffen gesagt. Nur keine unberechtigten Hoffnungen wecken! Sie klingelte. Als er die Tür öffnete, mischte sich Vertrautheit mit der Angst vor der Nachricht, die sie erwartete.

Er bat Annette ins Wohnzimmer, wo sie hart auf der beigen Couch landete. Sie hatte die Sitztiefe unterschätzt, wie jedes Mal. Thomas atmete tief durch und kam direkt zur Sache.

„Ich habe jemanden kennen gelernt.“

„Das sagtest du.“ Annette versuchte einen sachlich-souveränen Ton.

Er zögerte kurz. „Ich habe mich sogar verliebt.“ Er hielt inne, wie um sich erneut ein Herz zu fassen. Plötzlich hatte sie verstanden.

„Es ist ein Mann“, sprach er ihren Gedanken aus.

Auf dem Bücherregal tickte die alte Büfettuhr der Großmutter in die Stille hinein. Schwul. Später würde sie überlegen, ob Thomas das Wort vermieden hatte, um ihr nicht noch mehr zuzumuten, oder weil „schwul“ „immer schon schwul“ nahegelegt hätte. In einen Mann verliebt zu sein, ließ das zumindest offen.

„Ich hätte es dir gerne erspart!“, sagte er zaghaft.

„Und ich, was war ich dann für dich?“, brach es aus Annette heraus. Kaum waren die Worte ausgesprochen, fühlte sie einen unaufschiebbaren Impuls. Ohne eine Antwort abzuwarten, robbte sie an ihn heran, verbarg den Kopf an seiner Schulter und schluchzte. Die Uhr tickte weiter. Wie viele Sekunden waren seit Thomas‘ Offenbarung vergangen?

„Ich habe dich geliebt.“ Er kraulte ihren Nacken, auch diese Geste schien ohne Alternative. Seine Finger tasteten den Haaransatz hinauf, verweilten, umspielten einzelne braune Haarsträhnen. Zum letzten Mal vielleicht. Sie spürte leichte Erschütterungen an seiner Brust.

Sein Hemd verströmte den vertrauten Waschmittelgeruch, den Annette schon vor einem Vierteljahrhundert bei den Feuerzangenbowlen-Abenden der Clique im elterlichen Partykeller eingesogen hatte. Er begleitete sie seither, schwebte auf der Abifeier vor ihr und erfüllte in Postojna, Zadar, Bijelo Polje und den anderen Stationen ihres Jugoslawienurlaubs das Zelt. An einem Sommerabend erreichte er nach unzähligen Gläsern Erdbeerbowle endlich ihr Kopfkissen und wurde irgendwann zum Familiengeruch. Erst nach der Trennung hatte Annette das Waschmittel gewechselt. Würde sie jemals wieder mit einem Mann einen Geruch teilen?






Susanne Wirtz, Jg. 1964, hat in Köln und Haifa Geschichte, Judaistik und Politik studiert und anschließend ein Volontariat bei einer Wochenzeitschrift absolviert. Es folgten Tätigkeiten als Wissenschaftsredakteurin und freie Journalistin für WDR, NDR, Deutschlandfunk und SWR.

Veröffentlichungen (Auszug):

  • 2021: „Flussreise“ in: RTKbewegtsich – Zeitschrift des ökumenischen Hospizdienstes Rheingau e.V.
  • Lesungen u.a. für das Freie Werkstatt Theater Köln
  • 2008-2010: Beiträge zur Tribüne – Zeitschrift zum Verständnis des Judentums – zu den Themen jüdische Autoren in Deutschland, Wissenschaftsnation Israel und Antisemitismus in Europa

Zum Broterwerb und doch mit Freude ist sie seit 2016 als Jobcoach für Migranten und Flüchtlinge tätig.






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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