Martin A. Völker für #kkl17 „Begegnung“
In den Weg treten
Täglich triffst du auf irgendwelche Menschen: morgens im Treppenhaus auf die ältere Nachbarin mit der Zeitung in der Hand, während du dich in entgegengesetzter Richtung auf den Weg zur Arbeit machst. In der U-Bahn triffst du auf den weiß gelockten Dickwanst mit der abgewetzten Lederaktentasche, der immer dann, wenn du aussteigen musst, sein Stofftaschentuch hervorzieht und sich die Augen auswischt. Du triffst an der grünen Ecke vor deinem Büro auf die beiden Schachspieler unter der breiten Linde, die so versteinert wirken wie der Tisch, an dem sie sitzen. Du triffst diese Menschen, jeden Tag. Aber bist du ihnen jemals begegnet? Was gehört zu einer Begegnung? Das Stehenbleiben und Anschauen gehört dazu, obwohl das Wegsehen, Schweigen und Weitergehen viel einfacher ist. Das Einfache ist allerdings oftmals auch das Oberflächliche und Unverbindliche, das vorbeihuschende Elend, mit dem wir glücklicherweise wenig zu schaffen haben, die eigentümliche Außenansicht, welche die Golderzader kaum erahnen lässt. Die Begegnung ist ein tiefschürfendes Ereignis. Eindrücke bringt sie hervor. Sie formt unsere Gedanken und prägt sogar unser Handeln. Begegnungen bringen uns in Bewegung, sie lassen uns vielleicht das werden, was wir nie waren. Ein schlimmer und zugleich wunderbarer Gedanke. Versuche es doch einmal, den Menschen, die du täglich triffst, zu begegnen. Stelle dich ihnen in den Weg, lasse das Leben, das erzählerisch aus ihnen heraussprudelt, in dein Leben einfließen. Die ältere Nachbarin könnte dir erzählen, dass sie ihre Zeitung allmorgendlich aus dem Briefkasten eines anderen Nachbarn stiehlt, und dieses kleine Geheimnis wird dich und sie zum Lachen bringen, wenn sich eure Blicke künftig begegnen. Der Weißgelockte in der U-Bahn könnte dir erzählen, dass er eigentlich ebendort aussteigen müsste, wo du täglich aussteigst, dass ihn hingegen seine Angst vor den Schülern seiner Klasse jeden Tag daran hindert. Von den Versteinerten unter der breiten Linde würdest du erfahren, dass es zwei Brüder sind, die irgendwann feststellten, dass sie sich rein gar nichts zu erzählen haben, sie dieses Schweigen beim Schachspielen jedoch wenigstens nutzbringend einsetzen können. Die Begegnung erlöst von Gegnerschaft, sie öffnet uns dort Türen, wo die Fremdheit sie verschweigt, weil sie uns blind macht. Die Begegnung öffnet das Auge, schließt das Herz auf und reicht die Hand hin. Sicher: Die Begegnung birgt Schmerzgefahr: Schmerz durch innere Berührung und Anteilnahme. Mitgefühl schmerzt, aber das Mitfühlen teilt und verdünnt diesen Schmerz, vertreibt die Nebelschleier vor dem schönen Antlitz anderer. Das, was du für Pazifismus hältst, scheut die Begegnung, welche tief und mit ungewissem Ausgang in dich hineingreift. Pazifismus ist die Selbstquarantäne der Mutlosen, das interesselose Wohlgefallen an sich selbst. Wage es, dir keinen Gefallen zu tun.

Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Kulturmanager, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.
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