Meine Freundin

Christiane Schwarze für #kkl17 „Begegnung“




Meine Freundin

Ich saß im Café und unterhielt mich mit meinen Freundinnen. Eine Frau sprach von hinten fragend meinen Namen aus.
Die Stimme konnte ich keiner Person zuordnen, und doch schien sie mir vertraut. Als ich mich umdrehte, wusste ich im selben Augenblick, dass nur SIE es sein konnte.
SIE, die von einem Tag auf den anderen aus meinem Leben verschwunden, SIE die ich so vermisst hatte, dass es mir vor Traurigkeit schlecht gewesen war, SIE, um die ich nächtelang geweint hatte.
Jetzt stand sie hinter meinem Stuhl und wartete auf eine Antwort.
„Ja, ich bin es.“ Mehr vermochte ich nicht hervorzubringen.
„Möchtest du dich zu mir setzen?“ fragte sie.
Auch diesmal brachte ich nur ein „Ja“ zustande.
Was meine Freundinnen wohl gedacht haben mochten, als ich mich wie eine Traumwandlerin zu ihr an den Tisch setzte? Meine Verwirrung war so groß, dass ich kein erklärendes Wort zu ihnen gesagt hatte, als ich aufstand.

Wir berichteten einander, welcher Arbeit wir inzwischen nachgingen, wo wir wohnten.
Es wunderte mich nicht im Geringsten, dass sie mich nach all den Jahren erkannt hatte, schon damals besaß sie ein unglaublich gutes Gedächtnis für Stimmen. Doch diesmal hatte sogar sie gezweifelt, schließlich waren wir damals noch Mädchen gewesen und meine Stimme inzwischen dementsprechend tiefer und ausdrucksstärker geworden.
Das erste Mal war sie gekommen, weil ich weinte. Dabei lag ich im Bett, und außer einem leisen Schluchzen und Schniefen in das Taschentuch war gar nichts zu hören.
„Ich wohne jetzt neben dir“, sagte sie, setzte sich auf die Bettkante und legte Papiertaschentücher auf mein Kopfkissen.
Jedes Mal, wenn ich an diesen ersten Abend dachte, fragte ich mich, warum ich nicht erschrocken war.
„Wie bist du hereingekommen?“, fragte ich nur.
„Ich bin aus meinem Fenster geklettert, auf den Rasen gesprungen und dann bei dir eingestiegen.“
Es war Sommer, und beide Flügel waren weit geöffnet.
Auch ich hatte trotz ständiger Ermahnungen meiner Mutter diesen Weg schon oft genug als Abkürzung in den Garten genutzt.
„Warum weinst du?“
„Ich fürchte mich, wenn ich allein bin, meine Mutter hat Nachtdienst. Außerdem habe ich Angst im Dunkeln.“
„Mach doch Licht.“
„Das geht nicht. Dann kommt die Nachbarin. Ich soll nur Licht machen, wenn irgendetwas ist. Hast du denn keine Angst, wenn es finster ist?“
Ich konnte nur ihre Umrisse sehen, aber ich fühlte, dass sie lächelte.
„Nein, warum auch. Pass auf, ich muss zurück, aber denk daran, mein Zimmer ist genau neben deinem. Wenn du Angst hast, klopf leise.“
Ich war viel zu aufgeregt, als dass ich noch an meine Angst hätte denken können.

Meine Mutter wunderte sich, denn ich verabschiedete sie am nächsten Abend freudestrahlend.
„So kenne ich dich ja gar nicht“, doch dann schaute sie auf die Uhr, gab mir einen Kuss, machte das Licht aus und eilte davon.
Wie sehr wünschte ich mir, dass das Mädchen wiederkäme. Doch durfte ich klopfen, obwohl ich mich heute Abend gar nicht fürchtete? Wir wohnten noch nicht lange hier, darum hatte ich keine Freundin. Zu gerne hätte ich eine so mutige Freundin gehabt, die sich traute, nachts aus dem Fenster zu klettern, durch den dunklen Garten zu schleichen und in eine andere Wohnung einzusteigen.
Ich hätte mich das nie gewagt! Ob sie böse wäre, wenn ich klopfte, obwohl gar nichts geschehen war? Wahrscheinlich wollte sie sowieso keine „Angsthasenfreundin“, wenn sie selbst so mutig war. Ich überlegte hin und her und konnte mich nicht entschließen.
Da hörte ich die gleichen leisen Geräusche wie gestern.
„Ich wollte dir gute Nacht sagen.“
„Komm unter die Decke, damit du keine kalten Füße kriegst.“
Sie legte ein dickes Buch auf mein Bett.
„Ich lese dir noch eine Geschichte vor.“
„Das geht leider nicht, ich habe keine Taschenlampe.“
Sie bekam wieder diese Stimme wie gestern, als ich mir sicher war, dass sie lächeln würde, obwohl ich ihr Gesicht nicht sehen konnte. Es hörte sich tatsächlich so an, als ob sie vorläse.
„Du kannst aber gut Auswendiglernen!“
Jetzt lachte sie.
„Ich lese dir wirklich vor – es ist ein Braille-Schrift Buch.“
Ob das eine Geheimschrift war, so etwas Ähnliches wie Morsezeichen, wo eine bestimmte Anzahl von Klopfzeichen einen entsprechenden Buchstaben bedeutete?
Fast hätte ich sie es gefragt, aber da ich beim ersten Mal schon geweint hatte, wollte ich nicht, dass sie mich für eine Heulsuse hielt, die außerdem noch dumm ist.
Deshalb sagte ich nur: „Hmmm“.
Sie reichte mir das Buch, und ich fühlte kleine Punkte. Ein so tolles Geheimbuch hatte ich noch nie in der Hand gehabt. Wenn doch auch ich lernen könnte, diese Schrift zu lesen.
Manchmal stellte sie mir merkwürdige Aufgaben. Zum Beispiel sollte ich ihr genau die Farbe Rot erklären.
„Rot ist eben rot.“
„Wie ist es genau?“
„Rot wie Blut, rot wie Klatschmohn, rot wie ein Sonnenuntergang, rot wie Kirschen, rot wie rote Johannisbeeren.“
Es schien mir, als hätte ich ihre Aufgabe nicht gut gelöst, doch sie wechselte das Thema.
Eines Abends fragte ich sie, in welche Schule sie ginge, und warum ich sie tagsüber noch nie getroffen hätte. Ich tat dies in der Hoffnung, dass sie vielleicht auf dieselbe Schule ginge, in die ich nach den Sommerferien kommen würde. Dann hätte ich schon eine Freundin und wäre nicht allein unter lauter fremden Kindern. Sie antwortete, sie wäre müde und ging.
Ich spürte, dass sie solche Fragen nicht mochte, also ließ ich sie damit in Ruhe, denn noch größer als meine Neugierde war die Angst, sie würde nicht mehr wiederkommen.
Auch meiner Mutter verschwieg ich die Besucherin, denn ich befürchtete, sie würde es nicht zulassen, dass ein anderes Kind nachts durch den Garten schlich und zu mir hineinkletterte.
Wie sollte ich ihr erklären, dass es eben einfach meine Freundin war, auch wenn sie tagsüber wie vom Erdboden verschluckt schien? Ich wusste ja den Grund selbst nicht, und er schien mir auch unwichtig – Hauptsache, wir waren abends zusammen.
Meine Mutter lobte mich, weil ich nun endlich Vernunft angenommen hätte und freundlich dreinschauen würde.

Es war ein Dienstag. Das weiß ich so genau, weil Mutter mir immer erlaubte, die Blätter des Kalenders abzureißen. Sie unterhielt sich mit der Nachbarin aus dem ersten Stock.
„Die Mutter von dem blinden Mädchen ist wieder aus dem Krankenhaus gekommen. Ihre Tante ist gerade mit ihm weggefahren.“
„Ja, ich habe doch manchmal gehört, dass Frau Schröder mit jemandem geredet hat. Warum hat man das Kind nie zu Gesicht bekommen?“
„Ich habe es auch in den ganzen Sommerferien kein einziges Mal draußen gesehen. Vielleicht ist es Frau Schröder unangenehm gewesen.“

Frau Schröders Wohnung?
Das war die Wohnung im Untergeschoss, genau neben unserer.
Plötzlich begriff ich, von welchem Kind sie sprachen.
Und ich vermisste meine Freundin, noch bevor es Abend wurde.






Christiane Schwarze

Geb. 1960 / lebt in Homberg (Ohm) / ehem. Logopädin in eigener Praxis, jetzt freie Schriftstellerin / Mitglied im VS / zahlreiche Literaturpreise / internationale Künstlerstipendien (Deutschland, Frankreich, Schweden, Schweiz, Spanien) / zahlreiche Lesungen im In- und Ausland / sieben Bücher, davon drei zusätzlich in Brailleschrift und zwei als Hörbuchversionen für Blinde / fünf musikalisch-literarisch inszenierte Hörbücher (mit ihrem Duo TonSatz) / über 300 Einzelveröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Anthologien und Kunstprojekten (Deutschland, Österreich, Schweiz, Dänemark, Spanien) / www.christiane-schwarze.de





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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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