Kristin Hogk für #kkl17 „Begegnung“
Bahnhofsliebe
Der Zug kommt mit lautem Quietschen zum Stehen. Nur wenige wollen hier aussteigen, in dieser mittelgroßen Hansestadt, die nicht mal in der Nähe des Meeres liegt. Und von den wenigen Passagieren machen die meisten, auch ich, genau das: passieren – weiterziehen, sobald ihr Anschlusszug sie mitnimmt. Schon bemerke ich die Arroganz des Fremden in mir, wissend, dass ich eigentlich nichts weiß über diesen Landstrich. Es gibt Gründe, warum Menschen hier wohnen; Gründe, die sie kennen und ich nicht.
Ich schultere meinen Rucksack und zerre den Rollkoffer hinter mir her, da bleibt mein Blick an einer bunt verzierten Säule hängen. Unten türkis, dann ein Band aus gelben Steinen, darüber wieder türkis und oben ein lila-schwarz-gestreifter, zwiebelförmiger Bauch. Die ungleich geformten Mosaike glänzen wie poliert in der Sonne. Was man aus einer schnöden Bahnhofssäule hübsches machen kann! Schon bin ich dem Ort ein wenig wohler gesonnen und trotte weiter Richtung Fahrstuhl. Da erst fällt mir auf, dass auch die anderen Säulen des Bahnhofs so form- und farbenfroh gestaltet sind. Märchenhaft! Als ich in die Bahnhofshalle trete, empfangen mich noch mehr geschwungene Rundungen, goldene Kugeln, bunte Säulen und von farbigen Mosaiken verzierte Böden und Wände. Lichter fallen von irgendwoher ein und werden von kleinen Spiegelsteinen quer durch den Raum zurückgesendet. Hieran kann man nicht einfach so vorüberhetzen, hier muss man stehen bleiben und schauen! Wahrscheinlich deshalb, und nur deshalb die langen Wartezeiten zwischen den Zügen.
Nachdem ich mich staunend wie ein Sterngucker um mich selbst gedreht habe, will ich dem Kaffeeduft folgen. Doch mein Koffer bleibt an irgendetwas hängen. Ich drehe mich zurück und sehe es, besser gesagt ihn, den Körper, und zwar den Körper einer Frau. Sie hockt mit dem Gesicht zur Wand, ihre Hände gespreizt darauf gelegt.
„Ist ihnen nicht gut?“, ist mein erster Impuls. Doch ihr Gesicht, das sich nun zu mir hochwendet und lächelt, strahlt keinerlei Unwohlsein aus. Im Gegenteil. Mich überkommt das unbehagliche Gefühl, sie bei irgendetwas gestört zu haben.
„Danke, mir geht es gut. Ich habe nur meinen Geliebten begrüßt.“
Ein beseeltes Lächeln inmitten zahlloser Sommersprossen. Mein fragender Blick scheint sie zu amüsieren, dann wandern ihre Augen zurück zur Wand. Zärtlich streichen ihre zarten Fingerkuppen über das raue Weiß. Mit einem flüchtigen Luftkuss verabschiedet sie sich und flüstert ein kaum hörbares „Bis später.“
„Ist er nicht attraktiv?“, strahlt sie nun in meine Richtung.
„Wer?“ Ich schaue mich suchend um in der Hoffnung, selbst noch auf die Antwort kommen.
„Na er! Mein Bahnhof!“, ruft sie mit erhobenen Armen freudig aus.
Entgegen meiner Erwartung erregt sie mit ihrer Lautstärke keinerlei Aufmerksamkeit. Die Verkäuferin im Bistro ein paar Meter vor uns rückt ungestört weiter die Backwaren so zurecht, dass es trotz Lücken nach einem reichhaltigen Angebot aussieht. Aus den Ecken am Ausgang fegt eine ältere Frau im Kittel unsichtbaren Dreck.
„Ach, das ist Ihr Bahnhof? Der ist ihnen wirklich wunderbar gelungen! Tolles Design!“ Nun freue auch ich mich darüber, meine Begeisterung direkt jemandem weitergeben zu können. Ihre warmen braunen Augen lächeln nachsichtig:
„Nein, ich hab den nicht gestaltet, das war der berühmte Herr Hundertwasser. Schauen Sie doch, diese ganzen Formen und Farben! Und dieser Wandbrunnen! Ein Traum von einem Ort! Alles ist im Fluss! Zum Verlieben, oder?“
Ich nicke zaghaft, denn hübsch ist es hier wirklich.
„Als dieses Prachtstück im November 2000 eingeweiht wurde, war es um mich und meinen Friedrich geschehen.“ Ihre Augen funkeln feucht. „Ich verrate Ihnen jetzt mal was, aber halten Sie mich nicht für verrückt.“
Ich nicke, erstaunt über so viel Vertrautheit, und beuge mich ihr entgegen.
„Vor zwei Jahren haben wir geheiratet. Der Friedrich und ich. Ich spürte einfach, dass er mich auch so mag. Seitdem komme ich jeden Tag hierher. Natürlich mit der Bahn.“
Ich nicke ein weiteres Mal verständnisvoll, obwohl ich nur Bahnhof verstehe. Unsicher wage ich nachzufragen:
„Entschuldigung … und wer ist jetzt Friedrich?“
„Na, der Bahnhof“, erklärt sie mit wärmster Selbstverständlichkeit. Als sähe sie an meinem Blick nun auch den Schwachpunkt in ihrer Äußerung, fährt sie erklärend fort:
„Natürlich heißt er Friedensreich-Hundertwasser-Bahnhof, aber da er mir so nah und vertraut ist, nenne ich ihn eben Friedrich. Wenn wir intim sind, auch mal Fritz.“
Wenn wir intim sind … Der Faden scheint mir endgültig verloren gegangen und ich weiß nicht, ob mir daran liegt, ihn wiederzufinden.
„Haben Sie Familie?“, reißt sie mich aus meinen Gedanken.
„Ähm, nein“, antworte ich der Einfachheit halber, ich möchte den Kaffee jetzt mehr denn je. Mit einem Nicken Richtung Bistro setze ich mich in Bewegung. Verständnisvoll lächelt sie mir hinterher, während ihre rechte Hand zärtlich über eine Mosaikfläche fährt.
Der Kaffee ist gut – heiß und stark. Dampfend steht er vor mir im Sitzbereich des Bistros. Ich genieße die Ruhe als einziger Gast in der modernen Wohnzimmerkopie aus Blumentapeten, Kunstpflanzen und warmem Barleuchtenlicht. Meine Gedanken kreisen noch immer um meine kuriose Begegnung.
Wenn wir intim sind … Wie kann jemand mit einem leblosen Gegenstand intim sein? Sogleich fallen mir diverse Sexspielzeuge ein. Trotzdem: Was bekommt diese Frau von dem Gebäude zurück? Zuneigung? Komplimente? Trost? Wohl kaum. Geborgenheit und Wärme? Vielleicht. Stabilität? Sicher wurde sie von früheren Partnern verlassen und enttäuscht. Konflikte und Streitgespräche kommen mit so einem Gebäude jedenfalls nicht auf. Eine bequeme Einbahnkommunikation? Ich starre in meine inzwischen leere Kaffeetasse, als lägen die Antworten irgendwo auf deren Grund.
„Darf’s noch etwas sein?“, fragt freundlich die Verkäuferin hinter der Theke. Ich antworte mit einer Gegenfrage:
„Sagen Sie, die Frau dort in der Bahnhofshalle, ist die wirklich jeden Tag hier?“
„Also immer, wenn ich hier arbeite, sehe ich sie. Nur einmal war sie an zwei Tagen nicht da. Als sie wiederkam, fragte sie mich, ob etwas vorgefallen sei, sie wäre nämlich krank gewesen und hätte deshalb nicht kommen können.“
Es erstaunt mich, dass sie die Frau überhaupt nicht verurteilt. Fast habe ich einen Lästerton erwartet und schäme mich nun dafür.
„Was glauben Sie, warum die Frau so oft hierher kommt?“, hake ich nach.
„Zu mir hat sie gesagt, dass sie sich hier wohler fühlt als zuhause. Naja, so zufrieden, wie sie immer aussieht… Ich arbeite auch gerne hier, aber ich gehe am Abend auch gerne wieder nach Hause.“ Immer noch keine Abwertung in ihrer Stimme, nur ein Augenzwinkern bei ihren letzten Worten.
„Es stört sich also niemand an ihr oder dem, was sie tut?“
Ein Schulterzucken. „Sie tut doch niemandem was. Manchmal kauft sie hier auch ein und wir wechseln ein paar nette Worte.“ Ihre Blicke suchen und finden die Frau, die nun mit verträumtem Blick am Wandbrunnen sitzt. „Ich mag sie eigentlich.“
Nachdem sie das leere Geschirr abgeräumt hat, wünscht sie mir noch eine gute Reise und verschwindet hinter der Theke. Unser Gespräch ist wohl somit beendet.
Drei Wochen später führt mich meine Rückreise erneut in den Hundertwasser-Bahnhof. Wieder habe ich Aufenthalt – diesmal ganze neunzig Minuten. Eigentlich eine unerfreulich lange Reiseverzögerung, aber nach meinem Kuraufenthalt an der See bringt mich nichts so leicht aus meinem Gleichgewicht. Meditationen, Bastelabenden und Spaziergängen sei Dank. Die farbig strahlenden Mosaiksäulen auf dem Bahnsteig begrüße ich fast wie alte Bekannte. So warm und vertraut fühlt es sich an, dass ich sogar kurz in Erwägung ziehe, mein Gepäck einfach auf dem Gleis stehen zu lassen. Doch ahnend, dass ich wohl dieser Eine sein werde, dem in Hundert Jahren etwas an diesem Ort geklaut wird, verwerfe ich die Idee. Diesmal nehme ich den Weg über die Wendeltreppe, um mir den Wandbrunnen genauer anzuschauen. Da der Fahrstuhl defekt ist, wollen allerdings auch die anderen elf Ausgestiegenen die Treppe nehmen – im Gegensatz zu mir im Eiltempo. Stumm, deutlich genervt, drängeln sie sich an mir vorbei und bringen meinen Rucksack, meinen Koffer und meine drei zusätzlichen Beutel mit Souvenirs und Gebasteltem bedrohlich ins Wanken. Sie sind hier wahrscheinlich öfter als ich und haben keinen Blick mehr für die Kunst. Vielleicht hatten sie den auch nie. Mein Weg führt mich wieder ins Bäckerbistro, wo ich das Wohnzimmerambiente mit einer fünfköpfigen Familie und einem älteren Paar teilen muss. Sie alle kommunizieren aus unterschiedlichen Gründen sehr laut, sodass ich unweigerlich schneller esse und trinke und bald darauf wieder in der Bahnhofshalle stehe. Kurz erwäge ich, mir die Stadt anzuschauen, aber bei meinem Orientierungssinn würde ich nicht rechtzeitig zur Abfahrt zurückfinden. So schlurfe ich stattdessen in den kleinen Souvenirladen nebenan. Tücher, Keramik, Seifen, Schmuck – alles lässt sich als Hundertwasserkunst verkaufen. In einem Aufsteller gibt es auch Postkarten und Bücher. Ich blättere ein bisschen, lese hier und da. Auch über Hundertwassers Antipathie für die gerade Linie, die sich überall in diesem Gebäude zeigt und ihn mir sympathisch macht.
„Na, sind Sie auch wieder da?“
Ich drehe mich um und sehe in gerötete Augen.
„Haben Sie es schon gesehen? Ich verstehe nicht, wie einem diese Schmiererei Freude bereiten kann!“ Sie zeigt auf einen schwarzen Graffitizug in der Bahnhofshalle.
„Oh“, ich suche nach tröstenden Worten, „das tut mir wirklich leid um Ihr … also, um das schönes Gebäude.“ Doch sie scheint nur noch aufgebrachter.
„Das wird hoffentlich bald beseitigt!“, versuche ich erneut, sie zu trösten. Meine Erfahrung sagt mir allerdings, dass sich unerwünschte Graffiti eher lange halten.
Auch die Frau scheint nicht überzeugt. „Vielleicht streiche ich es einfach selbst über. Das kann doch gegen kein Gesetz sein …“ Ihre Verzweiflung bereitet mir Unbehagen. In meiner Hilflosigkeit greife ich wahllos eine Kunstkarte und lege sie neben die Kasse.
„Das macht eins dreißig.“ – Ein derart beschämend billiger Freikauf, dass ich mich zügig mit einem „Alles Gute“ davonstehle.
So stabil ist eine Objektliebe also auch nicht, denke ich bei mir zurück auf dem Gleis. Da kann einfach einer kommen und den Anderen beschädigen. Egal ob Mensch oder Gegenstand, nie scheinen wir unsere Liebsten gänzlich schützen zu können. Mir fällt mein Nachbar ein, der seine Frau auch Jahre nach ihrem Krebstod noch beweint. Oder mein Vater, der trotz all unserer Liebe am Mobbing seiner Vorgesetzten zerbrach. Was ist schon gänzlich und absolut sicher?
Ich betrachte noch eine Weile die Kunst auf meiner Karte, höre den Zug von Weitem einfahren und spüre eine zarte Verbindung zu dieser Frau, die von ganzen Herzen dieses Fleckchen Erde liebt.
Kristin Hogk
Ich wuchs seit dem September 1978 als dichtendes Kind in Salzwedel, der Stadt des Baumkuchens auf, die ich für das interessantere Amerika , Spanien und Irland verließ. Nach meinem Studium zur Diplomübersetzerin wurde ich als freie Übersetzerin, Editorin, Lektorin und Sprachlehrerin kreativ. Im August 2021 begann ich ein Fernstudium zur Autorin.
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