Spuren im Schnee

Christian Manske für #kkl17 „Begegnung“




Spuren im Schnee


Wann hatte der Winter eigentlich aufgehört, Winter zu sein? Simon hatte sich diese Frage in den letzten Tagen häufiger gestellt. Schon komisch, wenn man sich mal vor Augen führte, dass es eiskalt war und schneite, als hätte irgendjemand da oben vergessen, die Schneekanonen abzustellen. Denn wie sonst sollte Schnee entstehen, wenn nicht so? Wasser, das in einer Wolke an Staubkörnern zu Eis gefriert? Viel zu langweilig. Riesige Maschinen im Himmel, die die Erde zuckerten, entsprachen da schon eher Simons Vorstellung. Und die Schneekanonen liefen zurzeit durchgehend. Weiße Berge links und rechts des Weges waren die Folge davon. Vermutlich war es gerade dieses Bild eines echten Winters, das Simon ins Grübeln brachte.

Wann hatte der Winter seinen Zauber verloren?

Wann war er zu einer nichtssagenden, grauen Jahreszeit zwischen Herbst und Frühling geworden und wen verdammt nochmal konnte man dafür verantwortlich machen? Der Klimawandel wäre naheliegend, aber das war natürlich Blödsinn. Vermutlich hatten die Schneekanonen einfach nur einen Defekt gehabt und niemand auf weiter Flur, um sie zu reparieren. Simon schmunzelte. Ja, das klang plausibel.

Er war an diesem Abend mit seinem besten Freund Paul zum Essen verabredet. Simon war zu spät dran, dem Winterwunderland sei Dank, und Paul wartete deswegen schon an der Ecke vor dem Lokal. Halb erfroren im Schein der Straßenlaterne, die wie ein Spot auf ihn gerichtet war. Paul rieb sich die Hände und Rauchschwaden kondensierten Atems stiegen in den Nachthimmel.

»Da bist du ja endlich«, sagte er, als er Simon sah. »Hättest du noch länger gebraucht, dann hätte es mich komplett eingeschneit.«

»Ist es nicht wunderbar?«, fragte Simon.

»Mein Mantel ist durchnässt, meine Socken genauso und es würde mich nicht überraschen, wenn ich inzwischen mehr als nur einen schwarzen Zeh hätte. Also, ja, es ist herrlich.«

»Warum stehst du denn dann hier draußen? Hättest ja auch reingehen können.«

»Ist wegen dem Kerl da drüben. Er fasziniert mich.« Paul zeigte auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo ein Mann in einer knallorangen Daunenjacke Schnee schaufelte. Methodisch stach er mit seiner Schippe immer wieder zu und bahnte sich so langsam aber sicher einen Weg durch die Nacht.

»Er schippt Schnee«, stellte Simon nüchtern fest.

»Ja, aber schau dir doch mal an, wie er es macht.«

Schippe rein. Schnee zur Seite. Schippe rein. Schnee zur Seite. Immer abwechselnd einmal links und einmal rechts. Simon stellte nichts Ungewöhnliches daran fest. Der Mann in Orange sah aus, wie man sich jemanden beim Schneeräumen vorstellte. Vielleicht hatte er eine besonders ausgefeilte Technik? War er möglicherweise der berühmteste Schneeschipper der Welt? Paul hatte ihn natürlich sofort erkannt. Er, der sich für diese Dinge interessierte. Simon sollte es mehr als peinlich sein, eine solche Berühmtheit nicht zu erkennen. Er müsste sich bei Paul entschuldigen, da rüber gehen und sich ein Autogramm abholen. Wenn es gut lief, auch ein Foto. Nur leider war das da nicht der Mozart der Schneeschipper, sondern nur ein Mitarbeiter der Stadt, der seinen Abend damit verbringen durfte, die Gehwege freizuräumen und sich von zwei komischen Kerlen dabei beobachten zu lassen.

»Ich bin mir sicher, dass er seinen Job top erledigt, aber die Faszination an ihm erschließt sich mir trotzdem nicht so recht«, sagte Simon.

Paul schüttelte verständnislos den Kopf. »Dieser Mann ist die lebendig gewordene Schicksalsergebenheit.«

»Wie kommst du denn auf sowas?«

»Vor ihm erstreckt sich eine endlose weiße Weite. Die Wege hinter ihm, die er so schön freigeschaufelt hat, werden jetzt aber schon wieder zugeschneit.« Wie, um seine Worte zu unterstreichen, fielen die Flocken in diesem Moment doch tatsächlich noch dichter. »Nicht enden wollende Arbeit vor ihm, zunichtegemachte hinter ihm. Trotzdem strahlt er eine Ruhe und Gelassenheit aus, von der sich mein Yogalehrer gerne mal eine Scheibe abschneiden dürfte. Fehlt nur noch, dass er anfängt, fröhlich vor sich hinzupfeifen.«

»Kann es sein, dass du da ein bisschen zu viel hineininterpretierst?«, fragte Simon. »Der Kerl macht sich vielleicht auch einfach nicht allzu viele Gedanken über das, was er so tut. Und wir gehen jetzt mal besser rein. Nicht, dass dir die Kälte wirklich noch schadet.« Simon stupste seinen Freund mit dem Ellbogen von der Seite an.

»Der Mann hat mir etwas klar gemacht«, sagte Paul, den Blick voller Entschlossenheit.

»Und das wäre?«

»Unser aller Leben ist letztendlich nur eine Aneinanderreihung von Schneetagen. Wir türmen Berge um uns herum auf, so hoch wie der Mount Everest und warten doch nur darauf, dass wir eines Tages unter ihnen begraben werden. Trotzdem hören wir nicht auf. Wir sind verdammt zum Schneeschippen, Simon.«

»Na, du bist ja in ausgezeichneter Stimmung.«

»Was bliebe von ihm, wenn er heute Nacht sterben würde?«, fragte Paul.

»Nur ein paar Spuren im Schnee.«

»Die sofort wieder zugeschneit werden. Kann überhaupt irgendjemand von uns hoffen, etwas von Dauer zu hinterlassen?«

»Vermutlich die wenigsten«, sagte Simon. »Spätestens der Frühling macht unsere Spuren zunichte. Nur die tiefsten Furchen bleiben dann bestehen.«

Paul sah dem Mann in Orange nachdenklich hinterher. Der Kerl arbeitete sich beständig voran, bald wäre er vom Schneegestöber verschluckt. »Man stellt sich dann aber doch die Frage, warum wir es überhaupt versuchen, oder?«

»Vermutlich, weil es unser Schicksal ist«, sagte Simon. »Schneeberge auftürmen und Spuren hinterlassen. Auch wenn sie noch so klein und flüchtig sind. Für einen kurzen Moment werden sie da sein und eine Bedeutung haben. Das ist, wie ich finde, ein schöner Gedanke.«

»Ja, irgendwie schon«, flüsterte Paul. Er, der heute Vormittag seinen Job verloren hatte. Dem sein Arzt in zwei Monaten mit ernster Miene die schreckliche Diagnose unterbreiten würde. Der einen langen Kampf gegen die Krankheit führen, ihn gewinnen, eine Frau kennenlernen, eine Familie gründen und Kinder haben würde. Der ein langes und glückliches Leben führen würde. Voller Spuren im Schnee. Viele flüchtig, manche von Bestand. Paul, der sich umdrehte und das Lokal betrat.

Simon blieb einen Moment länger draußen stehen und atmete die kühle Luft ein. Es roch so einmalig, wie nur ein echter Winter riechen konnte. Er fragte sich, mit was die da oben ihre Schneekanonen füllten, um diesen Geruch zu erzeugen. Einfach wunderbar. Heute Abend hatte der Winter doch tatsächlich seinen Zauber wiedergefunden. Simon sah den Weg zurück, den er vor ein paar Minuten entlanggegangen war. Seine Fußspuren waren schon kaum mehr zu sehen.

»Schau, wie schnell das geht«, sagte er und folgte Paul hinein ins Warme. Leider hörte Simon nicht mehr, wie der Mann in der orangenen Daunenjacke anfing, schicksalsergeben ein Lied zu pfeifen.



Spuren im Schnee erstmalig erschienen in: Begegnungen (2020); independently published (KDP); ISBN-13: 979-8572892680




Christian Manske wurde 1986 in Tirschenreuth geboren und wuchs in Waldsassen in der idyllischen Oberpfalz auf. Er studierte Biologie in München und promovierte später im Bereich der medizinischen Mikrobiologie ebenfalls in der bayerischen Landeshauptstadt. Er arbeitet in der Pharmaindustrie und lebt mit seiner Frau und seinen (bald) drei Kindern in Germering. Zuletzt erschienen von Manske der Roman Kitsune (2020), die Kurzgeschichtensammlung Begegnungen (2020) sowie Kalliope in der Anthologie Macht und Wort: Die Macht der Sprache – Sprache der Macht (2021).

Interview mit Christian Manske HIER.






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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