Alles leuchtet

Anne Eicken für #kkl18 „sowohl als auch“




Alles leuchtet

„Armleuchter“, zischt der Vater und steigt aus dem Wagen.
Das Kind sitzt hinten und soll es nicht hören, also verschließt es brav die Ohren und blättert weiter in seinem Buch. Es schaut verstohlen zur Mutter, aber sie wendet sich ab, sieht nach draußen als sei nichts geschehen, als habe der Vater sie nicht gerade eben angezischt. Als er die Autotür zuwirft und geht, bleibt das Kind stumm auf dem Rücksitz und wartet. Nun sind sie allein, die Mutter und das Kind, mitten im Sommer. Wahrscheinlich ist es sehr schön hier, aber noch ist das Kind zu jung, um die Schönheit einer Landschaft zu begreifen. Es schaut gespannt nach vorn zum Beifahrersitz und wartet auf die Reaktion der Mutter. Sie ist jung, das Kind weiß das, denn einmal hat ein Mann die Mutter auf der Straße angesprochen und gefragt, wie alt denn die kleine Schwester sei und damit das Kind gemeint. Es fand die ganze Situation recht seltsam, denn die Mutter wurde bei dieser Bemerkung beinahe durchsichtig, ihr Lachen klang viel höher als sonst und schwirrte hoch hinaus, ein gläserner Strudel, der weit oben im Blau des Himmels zerbrach wie Kristall. Das Kind drückte die Hand der Mutter fester, damit sie nicht auch noch davon schwebte, aber unwirsch befreite sie sich aus dem Griff und als sie endlich weitergingen, schimpfte sie auf das Kind herab, dass sie sich ja wohl wenigstens noch unterhalten dürfe.
Jetzt sitzt das Kind mit der jungen Mutter allein im Auto und wagt es nicht, etwas zu sagen. Die Luft ist stickig, es würde gerne ein Fenster öffnen.
Die Mutter rutscht umständlich hinüber auf den Fahrersitz, stellt sich den Rückspiegel ein und lässt den Motor an. Das Kind möchte fragen, wo sie nun hinfahren ohne den Vater, aber es weiß schon längst, dass es jetzt nicht klug ist nachzufragen, dass es am allerbesten ist, ganz, ganz still zu sein, sich für eine Weile unsichtbar zu machen. So sitzt das Kind stumm auf der Rückbank und versucht die Bedeutung des Wortes „Armleuchter“ zu verstehen. Aber es gelingt ihm nicht. Was mag das für ein Leuchter sein, über den sich der Vater so ärgert, dass er einfach aus dem Auto steigt und verschwindet? Das Kind erinnert sich an den Leuchter, der bei den Großeltern über dem Esstisch hängt. Wie sein Licht alles zum Funkeln bringt, wenn die Großmutter eine festliche Tafel gedeckt hat, mit Kristallgläsern und Silberbesteck, und in der blankpolierten Oberfläche der Serviettenringe kann das Kind sich selbst sehen. Es denkt an die Musik, die vom hinteren Teil des Wohnzimmers kaum die gesellige Runde erreicht, aber der Großvater steht immer wieder auf, um die Schallplatte umzudrehen oder eine andere aufzulegen, damit die Musik, so leise sie auch ist, nie lange verstummt. Wenn es dem Kind dann langweilig wird, geht es hinüber zum Plattenspieler, setzt sich davor und betrachtet das Auf- und Abwippen der feinen Nadel auf den Rillen, lässt sich mitdrehen, dass es ihm beinahe schwindlig wird und von den Tönen davontragen, bis der Nachtisch kommt. Immer gibt es Eis und für das Kind eine Extraportion Sahne dazu.
Ein Eis hätte es jetzt auch gern. Es ist heiß im Auto, die Mutter hat das Fenster an ihrer Seite ein Stück geöffnet, der Fahrtwind löst Haarsträhnen aus ihrem Zopf, die sie mit der Hand immer wieder aus dem Gesicht streicht. Doch hinten auf dem Rücksitz bleibt es stickig und das Kind hat Durst und so langsam befürchtet es, nicht mehr stumm bleiben zu können und sichtbar werden zu müssen. „Wir gönnen uns jetzt ein schönes Eis,“ sagt die Mutter und schaut das Kind im Rückspiegel an. Als hätte sie seine Gedanken erraten. Das Kind nickt, aber es traut dem Schwung in der Stimme der Mutter nicht, es traut der Idee nicht, dass sie genau spürt, was das Kind jetzt braucht, aber es freut sich, aus dem heißen Auto zu steigen.
Sie setzen sich in den Schatten großer Bäume, das Kind darf sich einen Eisbecher mit Pfirsichen bestellen und Sahne, die mit Kokosraspeln bestreut ist. Die Mutter trinkt ein Glas Limonade, auf dem Tisch bilden sich kleine Wasserpfützen, als würde auch das Glas schmelzen, nicht nur das Eis. Ein warmer Wind streicht durch die Blätter der Bäume, unter denen sich das Kind geborgen fühlt, wie unter einem Dach. Den Kopf in den Nacken gelegt, beobachtet es das feine Zittern der Blätter und wie das Sonnenlicht für einen kurzen Moment hindurch scheint, ein Funkeln, das kommt und geht und sich manchmal auf den langen Stil des Eislöffels setzt und das Kind blendet.
Gerne würde es die Mutter nach dem Leuchter fragen, aber es traut sich nicht.

Spät am Abend kommt der Vater zum Campingplatz zurück. Es ist schon dunkel, die Mutter hat gerade Kerzen angezündet, da setzt er sich ohne Gruß an den Tisch, als wäre nichts geschehen und öffnet eine Flasche Bier, die er durstig leert. Das Kind liegt etwas abseits in der Hängematte, die der Vater zwischen zwei großen Kiefern befestigt hat, und schaukelt hin und her. Die Sterne am Nachthimmel schaukeln mit. Je stärker es von Seite zu Seite schwingt, desto mehr verschwimmen sie zu einem einzigen großen Lichtermeer. Das Kind hat Lust, sich ganz hoch aufzuschaukeln, so hoch, dass es sich fest in den Stoff der Hängematte hinein krallen muss, um nicht herausgeschleudert zu werden.
Da hört es, wie die Mutter leise lacht. Wie kleine, kostbare Perlen, die durch die Dunkelheit tropfen, klingt ihr Lachen. Höher und höher steigt es dem Lichtermeer entgegen, aber jetzt hat das Kind keine Angst, dass sie davon schwebt, denn der Vater stimmt mit ein und alles leuchtet.




Anne Eicken, Jahrgang 1969, lebt und arbeitet in Neustadt a.d. Weinstraße. Sie ist Lehrerin und Poesiepädagogin, schreibt Kurzgeschichten, Kurzprosa, manchmal auch Gedichte, erstellt Textcollagen und arbeitet an ihrem ersten Roman. Bisher veröffentlichte sie vor allem Fachbeiträge und Sachbücher im pädagogischen Bereich, erste literarische Veröffentlichungen in den Literaturzeitschriften „neue literarische pfalz“ und „Wortschau“.

Interview mit Anne Eicken HIER






Über #kkl HIER

Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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