André Hénocque für #kkl18 „sowohl als auch“
Schwierige Entscheidung
Der Junge saß auf einer Bank im Hauptbahnhof von Lüttich, lutschte an einem
Karamellbonbon und beobachtete seinen Vater, der am Gleis auf und ab lief. Der
Zug, der seine Mutter zu diesem Treffen bringen sollte, hatte etwas Verspätung.
Es war Winter und der Junge fror obwohl er sogar die Kapuze aufgesetzt hatte.
Er sollte das Weihnachtsfest bei seiner Mutter und den älteren Geschwistern
verbringen, denn das gehörte zur Abmachung, welche die Scheidungsanwälte zu
seinem Wohl, aber ohne ihn zu fragen getroffen hatten.
Eigentlich gefiel es ihm sehr gut bei seinem Vater und den übrigen Verwandten,
ja selbst die neue Partnerin war nicht so übel wie seine Mutter gern gehabt hätte.
Wenn nur das blöde Internat nicht wäre. Auch wieder so eine Abmachung der
Juristen. Die Wochenenden , die er mit seiner gleichaltrigen Kusine und deren
Freunde und Freundinnen verbrachte , entschädigten ihn für die oft eintönige Zeit
als Interner im Institut für Knaben. Sie tobten durch die Gärten, kletterten auf
Bäumen, aßen unreifes Obst und stopften sich beim sonntäglichen Kinobesuch
voll mit Eis und Süßigkeiten. Er wurde von allen Verwandten verwöhnt, wahrscheinlich
als eine Art Bestechung, damit er lieber bei ihnen wäre als bei seiner Mutter. Diese
Aussage konnten sie nicht oft genug hören. Das stimmte nur zum Teil, aber er wollte
sich die Vorteile nicht entgehen lassen. Herrliche Zeit!
Der Aufenthalt bei Brüdern , Mutter und den anderen Verwandten war fast ein Spiegelbild der vorherigen Situation : er wurde verwöhnt und bekam die Freiheiten, die ihm früher verwehrt worden waren. Seine Brüder zeigten ihm das Überleben in der Natur im Zelt mit Lagerfeuer und Nachtwanderung. Er durfte mit einem eigenen Messer schnitzen und mit Pfeil und Bogen umgehen. Im Sommer ging es ins Schwimmbad und im Winter wurden Schneemänner gebaut und Schlitten gefahren. Herrlich! Der Zug mit seiner Mutter bog auf das Gleis ein und der Junge stand auf um sie zu begrüßen und um in ihre Obhut gegeben zu werden. Er verabschiedete sich von seinem Vater, der seinen Zug für die Rückfahrt nicht verpassen durfte.
Bereits jetzt fürchtete er sich vor der Frage :“ Du bist sicher froh, dass du jetzt bei uns bist, nicht?“ Dieselbe Frage würde ihn auch bei der Rückkehr erwarten. Was sollte er ehrlich darauf antworten. Er mochte sowohl seinen Vater als auch seine Mutter und wollte niemandem weh tun. Also antwortete er immer gleich : „ Bei dir bin ich am liebsten“.
André Hénocque
Geb. 29.08.1948 in Hagen/Westf. , Verh. , 3 Kinder, 5 Enkel
Rentner, früher Industriekaufmann
Publiziert : 1 Kurzgeschichte – Naschkatze (2021)
1 Gedicht – Die Nymphen (2021)
1 Kurzgeschichte – Hundewetter (2022)
1 Kurzgeschichte – Der Freizeitbürger (2022)
1 Kurzgeschichte – Unverhofft (2022)
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