Martin A. Völker für #kkl18 „sowohl als auch“
Aus dem Schattenreich
Jede Medaille hat ihre zwei Seiten. Du betrachtest sie beide. Die Abwägung ist dir zur Gewohnheit geworden. Die klare Helligkeit des Guten trübst du etwas ein, und die Dunkelheit des Schlechten hellst du etwas auf. Allen Seiten lässt du Gerechtigkeit widerfahren. Du entscheidest dich dafür, keine Entscheidung zu treffen, und das fühlt sich gut für dich an. Aber stelle dir ein Unentschieden in anderen Situationen vor. Wie zufrieden werden zwei Fußballmannschaften mit derselben Anzahl erzielter Tore sein? Welches Glück wirst du deiner Lebensbeziehung hinzufügen, wenn du auf die Frage, ob du sie oder ihn liebst, antwortest, das komme doch sehr auf die Umstände des Tages und gewisser Stunden sowie auf viele andere Faktoren an? Dein Sowohl-als-auch sorgt dafür, dass du flexibel und immer in Bewegung bleibst. Aber dein gutes Gefühl entzündet die Unglückslunte anderer Leute. Du erschütterst ihr Sicherheitsbedürfnis, weil du unberechenbar, unverbindlich, konturlos und charakterlos erscheinst: wie ein Schatten deiner selbst, der Schatten eines Menschen, der vom Menschen losgerissene Schatten. Du verwandelst dich in ein graues Abbild, welches glaubt, viel mehr als das zu sein. Deine vorgelebte Philosophie denkender Schatten kehrt die Philosophie der Neuzeit um, verkehrt das Ich-denke und den starken Subjektbezug ins Gegenteil. Das ist der Sprung aus der Aufklärung in die Romantik. Das Selbstdenken führt zur Selbstverantwortung, und beides schafft ein klares Verständnis dafür, wer eine:r ist, und was eine:r nicht ist. Dieses aufklärerische Bewusstsein schafft deutlich erkennbare Konturen und sorgt für starke Kontraste. Hingegen versinkt dein romantisches Schattendasein im Grau, in der formlosen All-Einheit des Unsagbaren. Das ist zweifelsohne nachvollziehbar und in gewisser Hinsicht gut, weil ja die starken Ich-Gestalten sich zuletzt von allen und allem abkoppeln, und das Subjekt jedes Objekt, das Objekt, welches immer auch Natur war, vernichtet. Dennoch ist das Grau keine Farbe, und die Welt ist bunt. Du hast gelernt, dir die Farbfülle deiner Grauheit vorzugaukeln, aber niemand sonst wird sie je erkennen. Vielleicht geht deine Beweglichkeit wenigstens so weit, dass du probieren könntest, Stellung zu beziehen, die Sonne der Eindeutigkeit auszuhalten, Verantwortung zu tragen, Mensch zu sein. Schatten werden getreten, Menschen trittst du gegenüber. Das gebietet ihre und unsere Achtung, die Würde. Wann wirst du als Mensch auftreten? Es ist unmöglich, gleichzeitig auf der Bühne zu stehen und im Parkett zu sitzen. Dein Sowohl-als-auch ist farbloses, schattenvolles Unmenschentum.

Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Kulturmanager, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.
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