Der strunzdumme Biber

Thyra Thorn für #kkl19 „aufrichten“




Der strunzdumme Biber

„Die Häufung der Vorkommnisse, wissen Sie, die erregt schon Verdacht“, sagte Oberkommissar Oberhuber zu Assistentin Monika aus Hannover, die, ihren zweiten Tag in der neuen Stelle antretend, den Kaffee viel zu stark aufgebrüht hatte, was sein Herz in wilden Galopp versetzte. „Vier Tote innerhalb einer Woche“, krähte er und sah sie vorwurfsvoll an, während er seinen Puls kontrollierte.

Monika musterte ihn, murmelte: „Aha, interessant“, und, „alle sind im Wald gestorben.“

Alfons Müller ließ sich weder von der Jahreszeit noch von außergewöhnlichen Wetterverhältnissen von seiner Leidenschaft abbringen. Er war derjenige, der weit vor der eigentlichen Pfifferlingszeit „Rehgoaßl“ fand und als letzter in der Pilzsaison im Winter mit einem Korb Ritterlinge nachhause kam. Er war auch der einzige, der essbare von tödlich giftigen Exemplaren unterscheiden konnte, da er sich im Rahmen seines Forstwirtschaftsstudiums besonders der Symbiose zwischen Pilz und Baum gewidmet hatte. Ritterlinge schienen ihm von jeher äußerst interessant, weil sie sich – als so genannte Mykorrhizapilze – mit überraschend vielen verschiedenen Baumarten vergesellschaften.

Seit Alfons seine Arbeit als Revierförster angetreten hatte, waren viele neue Erkenntnisse im Bereich der Mykologie, aber auch der Anthropologie hinzugekommen. Während jedoch das stille Wirken der Pilze ihn innerlich anrührte, stießen ihn die polternden Umtriebe der Menschen ab.

Seit seinem Amtsantritt brachen daher selbst bei kleinsten Windstößen große Äste ab, die zufälligerweise genau auf Mountainbiketrails fielen und diese versperrten. Heidelbeerpflücker wurden durch eindringliche Warnungen vor dem Fuchsbandwurm verschreckt – Alfons stellte Schautafeln mit Aufnahmen riesiger Bandwurmfinnen in der menschlichen Leber und sonstigen Organen auf – und Spaziergängern, die ihre Hunde frei laufen ließen, wurde der Abschuss ihrer Köter angedroht. Alfons legte vor ihren Augen auf den angeblich harmlosen Fiffi, Bello oder Gismo an – „er will doch nur spielen, der tut doch keinem was“, auch wenn ihm gerade die Löffelohren eines kleinen Häschen links und rechts aus dem Maul hingen – und tat als wolle er abdrücken. Herrchen, Frauchen und Hundchen flohen mit Gekreisch und Gebell und erstatteten Anzeige, die im Kommisariat von Alfons Skatbruder Heinrich Oberhuber zwar ordnungsgemäß aufgenommen, aber nicht weiter verfolgt und nach angemessener Schamfrist niedergeschlagen wurde.

„Vier Tote im Staatsforst“, hob der Oberkommissar wieder an, „allesamt vom Baum erschlagen. Eine Riesensauerei!“

„Alle vier von einem Baum?“, Monika kam der Weltenbaum Yggdrasil in den Sinn.

„Nein, natürlich nicht, vier Opfer, vier Bäume – und was für Kaliber!“

„Wer?“

„Die Bäume.“

„Gibt es verwertbare Spuren?“

Oberhuber dachte an die klobigen Stiefel seiner Untergebenen, die beim Einsammeln herumliegender Werkzeuge hie- und dorthin über den trockenen Waldboden gestampft waren und das Münchner Spurensicherungsteam, das auf der Anreise einmal im Stau stecken geblieben und beim zweiten Mal von einem Regenschauer überrascht, gleich wieder umgekeht war. „Wissen Sie, nach all´ der Zeit und bei dem Regen, das lohnt sich eh nicht!“ Dann hatte das Team gerade einen anderen, wichtigeren Einsatz und zuletzt wurde in der Zentrale angesichts der Nummer auf dem Display der Hörer nicht abgenommen. „Die Hinterwäldler – bloß nicht!“

„Keine Spuren“, sagte Oberhuber, „nur Fingerabdrücke der Opfer.“

„Vielleicht eine Art kollektiver Selbstmord, eine Sekte, ein geheimer Ritus? Man weiß ja nie, was hier in Bayern …“

Oberhuber zog es vor, nicht zu antworten.

Der Wald kam in diesem Jahr einfach nicht zur Ruhe.

Ausgelöst von einer leichten Energiekrise und der dadurch beförderten „German Angst“ vor allem und jedem, holten sich sogar Leute aus der nahen Kreisstadt für zehn Euro einen Holzsammelschein bei der Gemeinde. Revierförster Müller musste ihnen erläutern, wann und wo sie dürre Äste und Zweige sammeln durften und in der Folge verirrte, verzweifelte, immer aber stark verärgerte Städter aus dem Wald retten.

„Auf einmal wusste ich nicht mehr, woher ich gekommen war und alles ist so grün und sieht gleich aus und es ist ja auch nicht so, dass auf der Nordseite der Baumstämme Moos wächst, das stimmt nicht, und wie soll man sich da bloß zurechtfinden, nicht einmal auf einen Baum habe ich klettern können und von dort aus übers Land schauen! Sie könnten ja schon mal ein paar Wegweiser oder Schilder aufstellen, das nächste Mal rufe ich die Rettung und die holen mich dann mit dem Helikopter!“

Nach einem langen Tag voller Zumutungen glitt Alfons trübsinniger Blick über die Oberfläche eines schwarzdunklen Gewässers, während er über tödlich giftige Ritterlinge nachdachte und darüber, wie er letztere in die Mägen der Holzsammler verfrachtete, ohne dass man ihm etwas nachweisen würde können, als sein Blick an etwas Haarigem am Ufer hängenblieb. Er erhob sich mühsam und trottete mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf hinüber. Es war – und das erschien ihm so unglaublich, dass er im selben Moment tief Luft holen musste, wiewohl sich schon in diesem ersten Augenblick tief unten in seiner Seele bei der Geburt einer grandiosen Idee dumpfe Ahnung in wilde Vorfreude wandelte und ihm daher die Luft knapp wurde – es war ein Biber, der von einem, von ihm selbst gefällten Baum erschlagen worden war. Ein strunzdummes Exemplar, wie es im gesamten Tierreich nur wenige gibt, – negiert man die tierische Herkunft der Menschheit und rechnet diese nicht mit ein.

Das war es! Alfons richtete sich zu voller Größe auf, sein Körper erlangte die alte Spannkraft, sein Blick wurde stählern und hell. Er wählte die Handynummer des Landrats, mit dem er jeden Freitagabend Karten spielte.

„Sehen Sie mal, in der Stadtzeitung gab es vor zwei Wochen diesen Artikel“, sagte Monika und schob Oberhuber einen Tee und das örtliche Nachrichtenblatt über den Tisch.

Darin war die Rede von einer verantwortungsvollen politischen Führung, die der mit Sicherheit katastrophalen Energiekrise wohlvorbereitet entgegentreten werde, von im kommenden Winter erbärmlich frierenden Menschen und der vorausschauenden Errichtung von Wärmehallen, die nur die bayerische Regierung und sonst keiner plane – erst recht nicht die da in Berlin! -; weiterhin von dem Entschluss der fürsorglichen Landesregierung, der den Menschen das Fällen einzelner, vom Förster zugewiesener Bäume im Staatsforst erlaube, damit nicht alle die Wärmehallen fluten müssten, sondern ein wenig zuhause heizen könnten. Jedoch dürfe nur mit Axt und Handsäge hantiert werden, für die Kettensäge brauche man einen Führerschein, den man nach Absolvierung eines Kurses bei Revierförster Müller zwar bekäme, aber nicht in diesem Jahr, weil der Kurs bereits ausgebucht sei.

Oberhubers Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen.

„Monika, Sie sind ein Schatz! Diese strunzdummen Städter haben versucht, selber Bäume zu fällen. Also allesamt selbstverschuldete Unfälle ohne Fremdeinwirkung! Damit schließe ich die Akte und wir machen Feierabend.“ Oberkommissar Oberhuber erhob sich, denn Freitagabend traf er sich mit seinen Freunden zum Skat.




Thyra Thorn ist Ethnologin und Mitglied im deutschen Schriftstellerverband. Seit 2008 veröffentlicht sie literarische Texte. Sie schreibt für österreichische, schweizerische Literaturzeitschriften und  deutsche Magazine. Ende Oktober 2020 nahm sie als eine der neun Finalisten an der FLORIANA Literaturbiennale in St. Florian/Österreich teil.

Zahlreiche Veröffentlichungen:  zuletzt „Luxus?“, PänK Verlag, 2022






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Veröffentlicht von Jens Faber-Neuling

Redakteur von #kkl Kunst-Kultur-Literatur Magazin und ZeitenGeist Magazin, Autor, Trainer und Coach im Bereich Bewusstseinserweiterung, glücklicher Papa und Ehemann.

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